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Die Akte Kachelmann

Die Akte Kachelmann

Titel: Die Akte Kachelmann
Autoren: Thomas Knellwolf
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einmal all diese Frauen verstanden. Die Scham. Die paradoxe Situation, den Konflikt. Mit der Zeit sei sie zu der Überzeugung gelangt, dass sie so etwas nicht verschweigen dürfe, er dafür büßen müsse und keiner anderen Frau Ähnliches antun dürfe.
    Ein stundenlanges Hin und Her sei es gewesen. Dann habe sie sich entschieden, endgültig: Ich gehe zur Polizei. Er darf damit nicht durchkommen. Zuvor will Sonja A. noch mit jenen reden, die ihr am nächsten stehen. Sie zieht sich warm an und geht hinüber ins Nachbarhaus, in dem ihre Eltern wohnen. Es dämmert schon. Vater und Mutter, beide Rentner, schlafen im oberen Stockwerk. Sonja A. setzt sich unten ins Wohnzimmer. Gegen 7.30 Uhr an diesem Dienstag erwacht die Mutter. Die 70-Jährige sieht unten im Haus Licht brennen. Völlig aufgelöst und weinend sitzt ihre Tochter auf der Eckbank. Der ganze Körper zittert. Nicht aufregen, sagt Sonja A., sie müsse zur Polizei. Sie sei vergewaltigt worden. Von Jörg.
    Sie schiebt das Tuch, das sie um den Hals trägt, herunter. Sie deutet auf eine Rötung über dem Kehlkopf. Acht Zentimeter lang, zweieinhalb Zentimeter breit, horizontal, wird ein Rechtsmediziner noch am selben Tag notieren. Dort habe der Täter ihr das Messer hingedrückt.
    Die Mutter rennt die Treppe hoch und weckt ihren Mann. Es ist etwas Schreckliches passiert, sagt sie zu ihm.
    Die Eltern hören sich die Schilderung ihrer Tochter an. Von Flugtickets im Briefkasten. Von der Diskussion darüber mit Jörg. Vom Betrug. Von seinem Geständnis. Wie sie ihn wegschickte und er über sie herfiel.
    Jörg, der früher hin und wieder in diesem gastfreundlichen Haus saß, bei netten Gesprächen, über das Wetter, über Unverbindliches. Der gute Herr Kachelmann, der auch den 60. Geburtstag des Vaters in Schwetzingen mitgefeiert hat. In ihm sahen die Eltern einen zwar unkonventionellen, aber festen und geschätzten Partner ihrer Tochter. «Das waren Small-Talk-Treffen», wird Jörg Kachelmann später im Amtsgericht Mannheim sagen, «bei denen man über Tagesdinge, über das Wetter gesprochen hat.» Als sachlichen Menschen wird ihn Vater A. bei der Polizei bezeichnen.
    Doch nun, um 8.11 Uhr, wählt der pensionierte Berufsschullehrer die 110. «Ich gebe Ihnen», sagt er nur, «gleich meine Tochter.»
    Es wird ganz still im Saal 1 des Landgerichts Mannheim, als ein halbes Jahr später eine Aufnahme der Funkleitzentrale der Heidelberger Polizei vorgespielt wird. Jörg Kachelmann in seinem grauen Anzug senkt den Blick. Eine zittrige Frauenstimme ist zu hören.
    «Guten Tag. Mein Name ist Sonja A.»
    Der Polizist am Notruftelefon: «Guten Morgen.»
    «Ich bin heute Nacht vergewaltigt worden und ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll.»
    «Von wem?»
    «Von …», Sonja A. zögert, «… von meinem Freund.»
    «Ok, ich will da gar nicht am Telefon großartig nachfragen.»
    Jörg Kachelmann verharrt in einer Art Gebetsstellung, als das Band abgespielt wird. Er verschränkt die Hände vor dem Mund und lehnt sich mit den Ellbogen auf den Tisch, zeigt keine Regung.
    Hat er gerade gehört, wie sein Opfer eine der schwersten Straftaten anzeigt, die ein Opfer selbst anzeigen kann? Oder bilden die Worte den Auftakt zum bekanntesten Rufmord in der Justizgeschichte der Bundesrepublik?
    Die Stimme von Sonja A. sagt: «Ich geh jetzt rüber in meine Wohnung.»
    Darauf der Polizist: «Wären Sie da allein oder wäre ihr Freund auch noch da?»
    «Nee, der ist weg. Definitiv.»
    «Kurze Frage noch: Wie geht es Ihnen?»
    «Es geht, ok …»
    «… So rein körperlich momentan?»
    «Ok. Alles klar.»

Der Tag danach
    Sonja A. ist zu durcheinander, um allein zur Kripo zu gehen. Ihre Mutter fährt sie. Kaum eine halbe Stunde nach dem Notruf treffen die beiden Frauen in der Schwetzinger Polizeidienststelle ein. Sie haben eine Tüte dabei mit einem dunkelbraunen Strickkleid und einem weißen Slip. Das sollen die Kleidungsstücke sein, welche die 37-Jährige vor und während der Vergewaltigung getragen hat. Die beiden Frauen sind aufgelöst. «Es ist eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens», sagt die Mutter noch auf dem Flur, «es ist furchtbar.»
    Eine Kriminalhauptkommissarin nimmt sich der Tochter an. Sie war die erste Frau bei der Schwetzinger Kripo, sie hat mehr als drei Jahrzehnte Erfahrung mit, wie sie es nennt, «Sittlichkeitsdelikten». Mutter A. muss draußen vor der Bürotür warten.
    Zum Auftakt der «Festlegevernehmung» – so der Polizeijargon – erkundigt sich die
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