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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte
Autoren: Kate Mosse
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Weihrauchduft in ihrer Nase und die Farben der Vergangenheit vor ihrem inneren Auge lösten bei Meredith das Gefühl aus, dass die Zeit von ihr abglitt. Im Akt des Kartenlegens verschmolz alles, was je geschehen war, und alles, was je geschehen würde, zu einer einzigen ununterbrochenen Gegenwart.
    Dinge, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her gleiten.
    Sie berührte die letzte Karte mit den Fingerspitzen, und noch ehe sie sie umdrehte, spürte Meredith, wie Léonie aus dem Schatten hervortrat.
    Karte  VIII : La Force.
    Meredith deckte sie noch nicht auf, sondern setzte sich auf den Boden, ohne die Kälte oder die Nässe zu spüren, und betrachtete die Oktave der Karten, die auf der Kiste lagen. Dann merkte sie, dass die Bilder anfingen, sich zu verändern. Ihr Blick wurde von Le Mat angezogen. Zuerst war es bloß ein kleiner Farbfleck, der zuvor nicht da gewesen war. Ein Tröpfchen Blut, kaum zu sehen, das größer wurde, sich ausbreitete, rot auf dem Weiß von Anatoles Anzug. Über seinem Herzen. Einen Moment lang schienen die gemalten Augen sie direkt anzusehen.
    Meredith stockte der Atem vor Entsetzen, und doch konnte sie sich nicht losreißen, als sie begriff, dass sie sah, wie Anatole Vernier starb. Die Figur glitt langsam auf den gemalten Boden hinunter und gab den Blick auf die Berge Soularac und Bézu im Hintergrund frei.
    Sie konnte kaum noch hinsehen, hatte aber andererseits das Gefühl, keine andere Wahl zu haben, doch da bemerkte sie eine Bewegung auf der danebenliegenden Karte. Meredith wandte sich La Prêtresse zu. Zunächst blickte das schöne Antlitz von Isolde Vernier ruhig von Karte  II zu ihr auf. Sie stand gelassen in ihrem langen blauen Kleid da, und die weißen Handschuhe betonten ihre langen, eleganten Finger, die schlanken Arme. Dann veränderte sich das Gesicht, die Farbe wechselte von Zartrosa zu Blau. Die Augen weiteten sich, die Arme schienen über ihrem Kopf zu schweben, als würde sie schwimmen, dahintreiben.
    Ertrinken.
    Das Echo des Todes, den Merediths eigene Mutter gewählt hatte.
    Die Karte schien dunkler zu werden, während Isoldes Röcke sich im Wasser um ihre bestrumpften Beine blähten, schimmernde Seide in der schleierhaften grünen Unterwasserwelt, schleimige Finger, die ihr die elfenbeinfarbenen Schuhe von den Füßen streiften.
    Isoldes Augen schlossen sich, doch in diesem letzten Moment sah Meredith, dass der Ausdruck, der aus ihnen leuchtete, Erleichterung war, nicht Furcht, nicht die panische Angst einer Ertrinkenden. Wie war das möglich? War ihr das Leben zu einer so unerträglichen Last geworden, dass sie den Wunsch gehabt hatte, zu sterben?
    Sie schaute zum Ende der Reihe, auf Le Diable, und lächelte. Die beiden zu Füßen des Dämons gefangenen Gestalten waren verschwunden. Die Ketten lagen leer vor dem Sockel. Asmodeus war allein.
    Meredith atmete tief durch. Wenn die Karten die Geschichte der Ereignisse erzählen konnten, was war dann mit Léonie? Sie streckte die Hand aus, brachte es aber noch immer nicht über sich, die letzte Karte aufzudecken. Sie brannte darauf, die Wahrheit zu erfahren. Zugleich fürchtete sie sich davor, was die sich wandelnden Bilder ihr sagen würden.
    Sie schob einen Fingernagel unter die Ecke der Karte, schloss die Augen, zählte bis drei und drehte sie um. Erst dann sah sie hin.
    Die Vorderseite war leer.
    Meredith richtete sich auf den Knien auf, traute ihren Augen nicht. Sie nahm die Karte, drehte sie auf die Rückseite und dann wieder nach vorne.
    Tatsächlich, die Karte war leer, völlig weiß; nicht einmal die Grün- und Blautöne der Midi-Landschaft waren geblieben.
    In dem Moment riss ein Geräusch sie aus ihren Gedanken. Ein brechender Ast, das Knirschen von Steinen, die auf dem Pfad losgetreten wurden, das jähe Aufflattern eines Vogels zwischen den Bäumen.
    Meredith stand auf, warf einen Blick hinter sich, sah aber nichts.
    »Hal?«
    Hundert Gedanken schossen ihr durch den Kopf, und keiner davon war beruhigend. Sie schob sie beiseite. Es musste Hal sein. Sie hatte ihm mitgeteilt, wo sie hinwollte. Ansonsten wusste niemand, dass sie hier war.
    »Hal? Bist du das?«
    Die Schritte kamen näher. Jemand ging schnell durch den Wald, das Rascheln von aufgewirbeltem Laub, das Knacken von Zweigen unter Sohlen.
    Wenn er es war, wieso antwortete er dann nicht? »Hal? Das ist nicht lustig!«
    Meredith wusste nicht, was sie machen sollte. Am klügsten wäre es, wegzulaufen und nicht erst abzuwarten, bis sie sehen konnte,
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