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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte
Autoren: Kate Mosse
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umklammerten seinen eigenen Hals, rissen an der Haut, als wollte er sich vom Würgegriff einer Hand befreien.
    Und Meredith hörte das Flüstern, eine andere Stimme, tiefer und lauter als Léonies, in ihrem Kopf widerhallen. Sie kannte die Worte nicht, verstand aber ihren Sinn.
    Fujhi, poudes; Escapa, non.
    Fliehen kannst du; entkommen kannst du nicht.
    Sie sah, wie Julians Widerstand erlahmte und er wieder zu Boden fiel.
    Sogleich senkte sich Stille über die Lichtung. Meredith schaute sich um. Sie stand auf einem unscheinbaren Flecken Gras. Keine Flammen, keine Mauern, kein Grabgeruch.
    Hal bewegte sich, stützte sich auf einen Ellbogen. Er hob eine Hand ans Gesicht und betrachtete dann die Innenfläche, klebrig von Blut.
    »Verdammt, was ist denn passiert?«
    Meredith umarmte ihn. »Er hat dich niedergeschlagen. Du warst einen Moment weggetreten.«
    Hal blinzelte, dann wandte er den Kopf zu der Stelle, wo sein Onkel lag. Seine Augen weiteten sich. »Hast du …?«
    »Nein«, sagte sie rasch. »Ich hab ihn nicht angerührt. Ich weiß nicht, was passiert ist. Eben war er noch …« Sie stockte, wusste nicht, wie sie Hal auch nur annähernd beschreiben sollte, was sie gesehen hatte.
    »Herzinfarkt?«
    Meredith ging zu Julian hinüber und kniete sich neben ihn. Sein Gesicht war kalkweiß und um Lippen und Nase bläulich verfärbt.
    »Er lebt noch«, sagte sie, zog ihr Handy heraus und warf es Hal zu. »Ruf einen Krankenwagen. Wenn der schnell genug hier ist …«
    Er fing es auf, machte aber keine Anstalten, zu wählen. Sie sah den Ausdruck in seinen Augen und wusste, was er dachte.
    »Nein«, sagte sie leise. »Nicht so.«
    Er hielt ihrem Blick einen Moment stand, und in seinen Augen flackerte Schmerz und die Möglichkeit, sich an seinem Onkel zu rächen. Ein Magier mit der Macht über Leben und Tod.
    »Ruf an, Hal.«
    Noch einen kurzen Moment hing die Entscheidung in der Schwebe. Dann sah sie, wie seine Augen sich verdunkelten, und er wurde wieder er selbst. Gerechtigkeit, nicht Rache. Er wählte die Nummer.
    Meredith hockte sich neben Julian, der nichts Erschreckendes mehr an sich hatte, nur noch bedauernswert wirkte. Seine Handflächen waren noch oben gekehrt. Auf jeder war ein seltsames Mal, wie eine liegende Acht. Sie legte ihm eine Hand auf die Brust, und dann merkte sie es. Er atmete nicht mehr.
    Langsam richtete sie sich auf. »Hal.«
    Er sah zu ihr herüber. Meredith schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät.«
    Kapitel 101
    Sonntag, 11 . November
    E lf Tage später stand Meredith auf der Landzunge, die sich über den See erhob, und sah zu, wie ein kleiner Holzsarg in die Erde gesenkt wurde.
    Es war eine kleine Trauergemeinde. Sie selbst und Hal, jetzt alleiniger Besitzer der Domaine de la Cade, sowie Shelagh O’Donnell, die noch immer von Julians Angriff auf sie gezeichnet war. Außerdem waren der hiesige Pfarrer da und ein Repräsentant der Mairie. Nach einigem Zureden hatte das Bürgermeisteramt die Zeremonie genehmigt, da die Stelle als der Ort identifiziert worden war, wo Anatole und Isolde Vernier begraben lagen. Julian Lawrence hatte zwar die Gräber geplündert, die Knochen aber nicht angetastet.
    Jetzt, nach über hundert Jahren, konnte Léonie endlich neben den Leichnamen ihres geliebten Bruders und seiner Frau zur Ruhe gebettet werden.
    Rührung schnürte Meredith die Kehle zu.
    In den Stunden nach Julians Tod waren Léonies sterbliche Überreste in einem flachen Grab unter der Ruine der Grabkapelle gefunden worden. Es sah fast so aus, als hätte sie sich einfach hingelegt, um auszuruhen. Niemand konnte sich erklären, wieso sie nicht schon früher gefunden worden war, denn schließlich waren an der Stelle umfassende Grabungen durchgeführt worden. Ebenso unerklärlich war die Tatsache, dass ihre Knochen in all der Zeit nicht von wilden Tieren weggeschleppt worden waren.
    Aber Meredith hatte am Fuß des Grabes gestanden und gesehen, dass die Farben der Erde unter Léonies schlafendem Körper, die kupferfarbenen Töne des Laubs über ihr und die verblassten Reste des Stoffs, der ihren Körper noch immer umhüllte und wärmte, zu der Illustration auf einer der Tarotkarten passten. Nicht zu dem Nachdruck, sondern zum Original. Karte  VIII : La Force. Und einen Moment lang meinte Meredith, Tränenspuren auf ihren kalten Wangen zu sehen.
    Erde, Luft, Feuer, Wasser.
    Aufgrund der vielen Formalitäten und des endlosen Papierkriegs mit den französischen Behörden war es bislang unmöglich gewesen,
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