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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte
Autoren: Kate Mosse
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herauszufinden, was genau Léonie in der Nacht des 31 . Oktober 1897 zugestoßen war. Es hatte einen Brand auf der Domaine de la Cade gegeben, das war aktenkundig. Das Feuer war in der Abenddämmerung ausgebrochen und hatte einen Teil des Haupthauses zerstört. In der Bibliothek und im Arbeitszimmer hatte es am schlimmsten gewütet. Es gab zudem Belege dafür, dass es sich um Brandstiftung gehandelt hatte.
    Am folgenden Morgen, an Allerheiligen, waren etliche Tote aus den schwelenden Ruinen geborgen worden, vermutlich Dienstboten, die von den Flammen eingeschlossen worden waren. Und es gab noch andere Opfer, Männer aus Rennes-les-Bains, die nicht auf dem Anwesen gearbeitet hatten.
    Es war unklar, warum Léonie Vernier beschlossen hatte – oder gezwungen worden war – zurückzubleiben, während andere Bewohner der Domaine de la Cade, unter ihnen auch ihr Neffe Louis-Anatole, geflohen waren. Ebenso gab es keine Erklärung dafür, wie das Feuer sich so schnell und so weit hatte ausbreiten können, dass es auch die Grabkapelle erfasste. Der
Courrier d’Aude
und andere Lokalzeitungen erwähnten den böigen Wind in jener Nacht, aber dennoch, war es wirklich denkbar, dass der Brand die Entfernung zwischen dem Haus und der westgotischen Grabstätte im Wald überwunden hatte?
    Meredith wusste, dass sie es herausfinden würde. Mit der Zeit würde sie die Puzzleteilchen zusammenfügen.
    Das aufgehende Licht glänzte auf der Wasserfläche, den Bäumen und der Landschaft, die ihre Geheimnisse so lange gehütet hatte. Ein Windhauch wisperte über die Erde, durch das Tal. Die Stimme des Geistlichen, klar und zeitlos, rief Meredith in die Gegenwart zurück.
    »In nomine Patri et Filii et Spiritus Sancti.
Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
    Sie spürte, wie Hal ihre Hand nahm.
    Amen. So sei es.
    Der Curé, groß und gewichtig in seinem schweren schwarzen Umhang, lächelte ihr zu. Ihr fiel auf, dass seine Nasenspitze rot war und seine Augen in der kalten Luft glitzerten.
    »Mademoiselle Martin,
c’est à vous alors.
«
    Sie atmete einmal tief durch. Jetzt, wo der Moment gekommen war, wurde sie plötzlich unsicher. Zögerlich. Sie spürte, dass Hal sanft ihre Finger drückte und sie dann langsam losließ.
    Meredith hatte Mühe, ihre Emotionen zu beherrschen, als sie an den Rand des Grabes trat. Aus ihrer Tasche nahm sie zwei Gegenstände, die in Julian Lawrence’ Arbeitszimmer gefunden worden waren, ein silbernes Medaillon und eine Herrentaschenuhr. Beide trugen lediglich Initialen und ein Datum: 22 . Oktober 1891 , in Erinnerung an die Hochzeit von Anatole Vernier und Isolde Lascombe. Meredith verharrte kurz, dann bückte sie sich und ließ sie behutsam in die Erde fallen, wo sie hingehörten.
    Sie schaute zu Hal hoch, der sie anlächelte und ganz leicht nickte. Wieder holte sie tief Luft und zog dann einen Umschlag heraus: das Notenblatt, Merediths kostbares Erbstück, das von Louis-Anatole über das Meer von Frankreich nach Amerika gebracht worden war und über die Generationen hinweg bis zu ihr.
    Es war schwer, sich davon zu trennen, doch Meredith wusste, dass es zu Léonie gehörte.
    Sie schaute auf die kleine Tafel aus grauem Schiefer, die in den grasbewachsenen Boden eingelassen war:
    Léonie Vernier
    22 . August 1874 – 31 . Oktober 1897
    requiescat in pace
    Meredith ließ den Umschlag los. Er drehte sich, kreiselte dann nach unten durch die kühle Luft, leuchtendes Weiß, das langsam aus ihren schwarzbehandschuhten Fingern glitt.
    Lasst die Toten ruhen. Lasst die Toten schlafen.
    Sie trat zurück, die Hände vor dem Körper gefaltet, den Kopf gesenkt. Einen Moment lang stand die kleine Gruppe schweigend da und erwies der Toten die letzte Ehre. Dann nickte Meredith dem Pfarrer zu.
    »Merci, Monsieur le Curé.«
    »Je vous en prie.«
    Mit einer zeitlosen Geste schien er alle zu umschließen, die sich auf der Landzunge versammelt hatten, dann wandte er sich ab und führte den kleinen Trauerzug den Hügel hinunter und um den See. Als sie sich vom Ufer abwandten und über den Rasen schritten, auf dem Morgentau glitzerte, spiegelte sich die aufgehende Sonne wie Flammen in den Fenstern des Hauses.
    Unvermittelt blieb Meredith stehen.
    »Kann ich noch einen Moment allein hierbleiben?«
    Hal nickte. »Ich kümmere mich darum, dass sie drinnen eine Stärkung bekommen, dann komme ich zurück.«
    Sie sah ihm nach, als er weiterging, auf die Terrasse, dann drehte sie sich um und blickte über den See.
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