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Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit

Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit

Titel: Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
Autoren: Gillian Shields
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sprach er mit dem zitternden Tier und tastete mit seinen langen Fingern über die Flanken, die übersät waren von Matschspritzern. Dann sah er mich wieder an, und diesmal war sein Blick nicht mehr ganz so feindselig. »Glücklicherweise hat es keinen ernsthaften Schaden erlitten.«
      »Na, großartig«, sagte ich. »Dem Pferd geht es gut. Was für eine Erleichterung! Ich hatte schon Angst, es hätte sich blaue Flecke geholt und von oben bis unten mit Matsch eingesaut, weil es irgendjemand auf den Boden gestoßen hat. Oder dass es jetzt in ein bescheuertes Internat muss, wo es gleich unangenehm auffallen wird, weil es am ersten Tag zu spät kommt. Aber nein, kein Problem. Dem Pferd geht’s prima. Halleluja!«
      Wütend klaubte ich meine Sachen zusammen, die aus den Koffern gefallen waren und sich auf der Erde verteilt hatten. Für wen hielt sich dieser dreiste Wichtigtuer mit den langen schwarzen Haaren und dem langen schwarzen Mantel eigentlich? Für so eine Art romantischen Wegelagerer? Ganz offensichtlich war er durchgeknallt. Schäumend vor Wut warf ich meine Sachen so schnell wie möglich wieder in den Koffer zurück. Ein blauer Sweater lag zusammengeknüllt auf dem Boden. Ich griff nach ihm und schrie auf.
      »Au!«
      Der Stoffberg fiel auseinander, und das gerahmte Foto von Mom kam zum Vorschein. Sie war wunderschön auf diesem Bild, auf dem sie an einem längst vergangenen Sommertag in die Kamera lachte. Ich hatte das kostbare Andenken beim Packen hastig in den Sweater eingewickelt, um es zu schützen. Aber der Glasrahmen war zerbrochen, und ich hatte mich daran geschnitten. Ein Blutstropfen lief über Moms Gesicht.
      Ich wippte auf den Fersen vor und zurück. Am liebsten hätte ich mich einfach in den Regen gesetzt und laut aufgeheult. »Sieh dir an, was du getan hast!«, sagte ich wütend und versuchte, meine Tränen zurückzuhalten.
      Der Junge warf die Zügel des Pferdes über einen niedrigen Ast und faltete den Sweater geschickt über dem zerbrochenen Rahmen zusammen. Dann flüsterte er ein paar Worte und legte ihn in meinen Koffer zurück.
      »Das Bild war dir wichtig«, sagte der Junge abrupt. Er sah mich auf eine seltsame, forschende Weise an, als wollte er noch mehr sagen. Ich hielt den Atem an. Er war wirklich ungewöhnlich, so bleich und still und nachdrücklich. »Weine nicht«, sagte er. »Bitte.«
      »Ich weine nicht.« Ich schluckte, stand auf und saugte an der verletzten Stelle an meiner Hand. »Ich weine nie.«
      »Das sehe ich«, spottete er. »Aber deine Wunde sollte verbunden werden, und es sieht ganz so aus, als müsste ich das für dich tun.« Er nahm ein weißes Taschentuch und wickelte es mir wie einen Verband um die Hand, um die Blutung zu stillen. Ein eigenartiges Beben ging durch meinen Körper, als unsere Hände sich berührten. »Da«, sagte der Junge und sah mich etwas sanfter an. »Ich habe dir das Leben gerettet und damit jeden Schaden wiedergutgemacht, der dir aus dem Zusammenstoß mit meinem Pferd entstanden sein könnte. Ich habe gerade verhindert, dass du verblutest.«
      Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein schmales Gesicht. Ich bemerkte die geschwungenen Lippen, die gewölbten schwarzen Augenbrauen. Noch immer hielt er meine Hand fest, und ich spürte eine eigenartige Anziehungskraft – ein winziger Knoten, der sich in meinem Bauch unterhalb des Brustkorbs bildete.
      »Mach dich nicht lächerlich!«, antwortete ich und ließ meine Hand mit einiger Mühe nach unten sinken. »So eine Verletzung ist nicht lebensgefährlich.«
      »Weißt du denn so genau, was für Gefahren auf dieser Straße lauern?« Der Junge rückte näher an mich heran und musterte mich mit seinen unnatürlich strahlenden Augen. Ich spürte seinen kühlen Atem auf meiner Wange. Dann berührte er eine Strähne meiner nassen Haare und flüsterte: »Woher willst du wissen, was alles in diesem Tal auf ein Mädchen wartet, das vom wilden Meer kommt?«
      Ich zitterte unter seiner Berührung, unfähig, etwas zu erwidern. Woher wusste er, dass ich vom Meer kam? Wer war er? Und konnte er – oder würde er – mir hier draußen an dieser einsamen Stelle irgendetwas antun? Ich wich einen Schritt zurück, riss mich zusammen und begann, mich auf all das zu konzentrieren, was ich früher einmal über Selbstverteidigung gelernt hatte. Der Junge schien meine Gedanken zu lesen.
      »Keine Sorge, du wirst heute wohlbehalten nach Hause kommen.« Er grinste und stieg auf sein Pferd.
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