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Die 13. Stunde

Titel: Die 13. Stunde
Autoren: Richard Doetsch
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gefallen und auf den Sportplatz der Kleinstadt Byram Hills gestürzt.
    Luftaufnahmen zeigten eine Spur der Verwüstung, die einen halben Kilometer lang war, als hätte der Teufel die Hand ausgestreckt und die Erde aufgerissen. Bis auf das intakte weiße Heck, das in die Luft ragte, erinnerte keines der Trümmerstücke mehr an das moderne Flugzeug, das nach Boston unterwegs gewesen war.
    »Keine Überlebenden«, sagte die übermäßig blondierte Nachrichtensprecherin. In ihren schwarzen Augen zeigte sich aufrichtiges Bedauern, ein solch tragisches Ereignis in Kurzform bringen zu müssen. »Das Nationale Amt für Transportsicherheit untersucht seit mehreren Stunden den Schauplatz des Absturzes und konnte mittlerweile den schwer beschädigten Flugschreiber von Flug 502 der North East Air bergen. Eine Pressekonferenz wurde auf einundzwanzig Uhr angesetzt.«
    Bilder vom Tage wurden gezeigt: Hunderte von Feuerwehrleuten im Kampf gegen die lodernden Flammen, die auf den Wrackteilen tanzten; Aufnahmen von den Bemühungen der Rettungskräfte und von Gepäckstücken, die am Boden verstreut lagen; Bilder von müden Feuerwehrleuten mit gesenkten Köpfen und rußverschmierten Gesichtern. Herzzerreißende Videos vermittelten einen persönlichen Eindruck der Tragödie: Laptops und MP3-Player, die im Schlamm lagen; eine völlig unversehrte Yankee-Kappe, die auf einem ebenso unversehrten Grasflecken lag; ein Kinderschuh; Rucksäcke und Aktenkoffer – allesamt Ermahnungen an die Zerbrechlichkeit des Lebens.
    Der Flachbildfernseher stand in den Mahagoniregalen einer Bibliothek aus der Alten Welt. Romane und Bücher über alle erdenkliche Themen – von Shakespeare-Dramen bis hin zur Autoreparatur, von Dumas bis hin zu Antiquitäten – füllten die Regale. Über dem Kaminsims hing ein majestätisches Löwengemälde von Jean-Léon Gérôme. Die Wand über dem Sofa zierten zwei Norman Rockwells, die Soldaten bei der Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg zeigten, wie sie ihre Familien umarmten. Große lederne Klubsessel standen vor dem Kamin, in dem kein Feuer brannte, und der persische Teppich mit seinen blau gefleckten Erdfarben vervollständigte die Einrichtung eines Herrenzimmers aus den 1840er-Jahren.
    Nick stand in der Mitte des Zimmers. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen und zitterte am ganzen Leib. Ein tiefes, dumpfes Wummern hallte ihm in den Ohren. Als er nach hinten kippte, packte er im letzten Moment eine Sofalehne und fiel auf die kastanienbraune Ledercouch mit den großen Polsternägeln.
    Nick kam es vor, als wäre er aus einem Albtraum erwacht. Er hatte einen merkwürdigen Geschmack im Mund, bitter und metallisch, und seine Lippen waren trocken. Ihm war eiskalt; er war bis auf die Knochen durchgefroren. Dennoch schien der Augenblick einen goldenen Schimmer zu haben, als hätte sich das Nachbild eines Lichts in seine Augen eingebrannt, eine Erinnerung an längst vergessenen Sonnenschein. Als er sich im Zimmer umschaute und herauszufinden versuchte, wo er sich befand, spannte er unbewusst die Hände, als würde er einen unsichtbaren Blasebalg bedienen. Sein Verstand war von Sinneseindrücken überlastet, und er besaß keine Orientierung und kein Zeitgefühl mehr.
    Erneut schaute er sich im Zimmer um, das ihm mit einem Mal immer vertrauter erschien, als würde es sich vom Rand seiner Wahrnehmung zusehends in die Mitte schieben. Im nächsten Moment wusste er, woher das Wummern stammte: vom Generator, der das Haus mit Elektrizität versorgte, nachdem in der ganzen Stadt das Stromnetz zusammengebrochen war.
    Dann stand ihm ein Name vor Augen: Marcus Bennett. Sein bester Freund, sein Nachbar. Dies hier war sein Haus, seine Bibliothek. Nick war vor einer Stunde hier gewesen, und Marcus hatte ihm Trost gespendet …
    Und dann traf ihn die Wirklichkeit wie ein tonnenschwerer Fels.
    Julia war tot.
    Als Nick die Augen schloss, sah er sie vor sich, ihre weichen Lippen, ihre makellose Haut, ihre natürliche Schönheit. Ihre Stimme klang klar und deutlich in seinen Ohren, als würde sie zu ihm sprechen, und er nahm den zarten Lavendelduft ihrer Haut wahr, den er noch deutlich in Erinnerung hatte. Schmerz und Trauer packten ihn, rissen ihn in eine Dunkelheit, von der er nie etwas geahnt hatte, umschlossen sein Herz und zerquetschten es in ihrem tödlichen Griff.
    Schließlich sah Nick zum Fernseher hinauf, zu den Wrackteilen des Flugzeugs, den Überresten der Passagiere, die verstreut dalagen wie achtlos weggeworfene Gegenstände. Es
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