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Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Titel: Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär
Autoren: Walter Moehrs
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Gesicht und schließlich eine eigene Frisur in Form von Gischt auf ihrem Kopf. Und man unterscheidet sie an ihrem Gang, dem sogenannten Wellengang. Wellen südlicher Gewässer bevorzugen einen lässigen, wiegenden Gang, die der Nordmeere eher einen strammen, zügigen, wegen der Kälte und der Gefahr, zur Eisscholle zu gefrieren. Hawaiianische Wogen scheinen sich im Takt von Rumbakugeln zu bewegen, schottische in langen Reihen zu unhörbarer Dudelsackmusik zu marschieren. Wenn man Wellen ausführlich studiert, weiß man, welche Sorte sich wo gerne aufhält. Kleine grüne mit lustiger Gischt zum Beispiel in tropischen seichten Gewässern, dunkle schlammige in Küstennähe, besonders an Flußmündungen, hohe blaue auf kalter, tiefer See und so weiter.

    Man kann also an ihrem Aussehen sehr genau bestimmen, wo man sich befindet, ob es Untiefen gibt oder unsichtbare Sandbänke und Korallenriffe, ob man in Landnähe ist oder auf hoher See, in einer tückischen Strömung und sogar, ob sich im Wasser Haie befinden oder nur Heringe. Sind Haie darin, zittern die Wellen leicht.
    Ich lernte auch alles Nötige über die tägliche Pflege des Schiffskörpers, das Reparieren von Planken, das Entfernen von Seeschnecken vom Schiffsrumpf (und ihre Zubereitung in Algensud), das Balancieren bei hohem Seegang, das Rettungsbootlassen, das Rettungsringwerfen und Ausgucksitzen. Schon nach einem Jahr war ich ein voll ausgebildeter Seebär und mußte mich bei Sturm auch nicht mehr übergeben.
    Die Zwergpiraten gaben mir reichlich zu essen, vorwiegend Algen und magere Fische. Sie kannten über 400 Zubereitungsarten, von »Alge natur« bis zum hochkomplizierten Souffle, und ich durfte von allem kosten. Meine heutige Abneigung gegen Algen könnte möglicherweise mit den Eßgewohnheiten der Zwergpiraten zusammenhängen.

    Man kann gegen Algen sagen, was man will: Sie enthalten alle wichtigen Vitamine und Aufbaustoffe, die ein kleiner Blaubär zum Wachstum braucht, vielleicht sogar zuviel davon. Denn ich wuchs in einem Tempo heran, das nicht nur mir, sondern besonders den Zwergpiraten bald unheimlich wurde. Am Anfang war ich kleiner als meine Lebensretter gewesen, aber schon nach einem Jahr genauso groß wie sie. Im zweiten Jahr war ich schon doppelt so groß, und nach vier Jahren überragte ich sie um fünf Körperlängen. Man kann sich vorstellen, daß dieses rapide Wachstum auf kleinwüchsige Piraten, die mit einem natürlichen Mißtrauen gegen alles Große ausgestattet sind, einen sehr unangenehmen Eindruck machte. Nach fünf Jahren an Bord war ich so groß und schwer geworden, daß ich ihr Schiff zu versenken drohte.

    Wenn ich es damals auch nicht verstand, die Zwergpiraten taten das einzig Richtige, als sie mich eines Tages auf einer Insel aussetzten. Ich bin sicher, es ist ihnen nicht leichtgefallen. Sie gaben mir eine Flasche Algensaft und ein selbstgebackenes Algenbrot als Wegzehrung, dann fuhren sie jammernd und klagend in den Sonnenuntergang. Sie wußten, daß ihr Leben ohne mich um einiges langweiliger werden würde.
    Als ich so nackt und verlassen am Strand einer einsamen Insel saß, dachte ich zum ersten Mal über meine Situation nach. Eigentlich dachte ich überhaupt zum ersten Mal nach, denn in der ewig lärmenden Atmosphäre des Zwergpiratenschiffes war ich ja nie dazu gekommen, einen klaren Gedanken zu fassen.
    Ich muß gestehen, daß meine ersten Denkversuche nicht gerade von unauslotbarer Tiefe waren. Der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam, war: Hunger. Der zweite: Durst.
    Also schlang ich gierig das Algenbrot herunter und trank hastig die Flasche Algensaft leer. Umgehend breitete sich in meinem Innern eine behagliche Wärme aus, als hätte jemand in mir ein kleines Lagerfeuer entfacht. Damit kam auch eine gewisse Zuversicht, die mich ermutigte, das Schicksal beim Schöpf zu packen und den mächtigen Palmenwald der Insel zu erkunden. Diese frühe Erfahrung könnte wie ein Lehrsatz über meinem ganzen weiteren Leben stehen: Wie groß eine Herausforderung auch sein mag, sie ist auf jeden Fall leichter zu bewältigen, wenn man vorher eine ordentliche Mahlzeit zu sich genommen hat. Dann kam die Nacht und mit ihr die Dunkelheit. Dunkelheit - ich wußte ja bisher gar nicht, was das überhaupt war. Bei den Zwergpiraten war es immer hell gewesen, auch nachts. Sobald der Abend hereinbrach, wurde das Schiff auf das prächtigste beleuchtet. Ein Zwergpiratenschiff in der Nacht ist immer eine kleine Sensation. Es sieht aus wie eine
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