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Diamantenschmaus

Diamantenschmaus

Titel: Diamantenschmaus
Autoren: Pierre Emme
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Hauptstraße 15–17 den Schock über den
plötzlichen und dennoch zu erwarten gewesenen Tod seines PCs zu bewältigen
versuchte, verließ die 71-jährige Pensionistin Hermine Wurminzer mit ihrem
dreijährigen Rauhaardackel Drafi ihre Wohnung auf Stiege 3 im zweiten
Stock, um das liebe Tier Gassi zu führen. Dabei summte sie gut gelaunt die
Melodie ihres Lieblingsschlagers ›Marmor, Stein und Eisen bricht‹ vor sich hin.
    Statt jedoch den Aufzug zu besteigen und nach unten ins
Erdgeschoss zu fahren, schleppte sich die alte Dame mühsam die beiden
Stockwerke zum Dachboden hinauf. Später sollte sie auf Befragen angeben, keine
andere Chance gehabt zu haben, da Drafi winselnd und immer wieder bellend nach
oben gezogen und sie quasi zum Hinaufgehen gezwungen hatte.
    Das um 1900 gebaute Zinshaus mit seinen vier Stiegen verfügte
über ebenso viele Waschküchen, also Räume, in welchen die Bewohner ihre Wäsche
schrubben, kochen und danach spülen konnten. Im Gegensatz zur landläufigen
Erwartung und allgemeinen Übung befanden sich diese Waschküchen im Hause 15–17
nicht im Erdgeschoss oder im Keller, sondern auf dem Dachboden.
    Ein Zeichen für die praktische Intelligenz des Bauherrn, der
berücksichtigt hatte, dass nasse Wäsche immer schwerer war als trockene und
dass es sich nach unten leichter schleppen ließ als in die Gegenrichtung.
    Inzwischen hatte sich Drafi losgerissen und war
nach oben gestürmt. Hermine brauchte natürlich etwas länger, bis sie endlich
schwer atmend am Dachboden anlangte und sich zum Verschnaufen auf dem Sessel in
der Waschküche niederlassen wollte. Doch der war bereits besetzt, wie Frau
Wurminzer auf den ersten Blick erkennen musste. Gleich darauf begann sie,
gellend um Hilfe zu rufen.

     
    *
    Ehe Palinski etwas sagen konnte, hatte der junge
Mann die Initiative ergriffen. »Hi«, meinte er und deutete auf das Mädchen
neben ihm, »das ist Maja Angeli und ich bin Jan Kröger. Wir sind die Neuen
von …«, er deutete nach oben. »Ich hoffe, unser Einzug hat Sie nicht allzu
sehr belästigt.«
    »Mario Palinski«, stellte sich der Leiter des Instituts für
Krimiliteranalogie vor. »Freut mich. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl hier. Und
bis auf das grässliche ›Brrrrrrr‹ eines Schlagbohrers gestern Mittag habe ich
eigentlich gar nichts mitbekommen.« Er lachte. »Dieses ›Brrrrr‹ hat es
allerdings in sich gehabt, mein Herz ist fast stehen geblieben.«
    Die beiden machten ein leicht betretenes Gesicht, sie kannten
Palinskis Hang zu derlei Übertreibungen noch nicht. Als sie ihn jedoch lächelnd
mit dem von ihnen aus gesehen linken Auge zwinkern sahen, entspannten sie sich
wieder.
    »Darf ich Sie etwas fragen?«, wollte die junge Frau wissen.
»Etwas, das mich vom ersten Moment an interessiert hat, seit ich das Haus
betreten habe.«
    »Nur zu«, ermunterte Palinski sie, »ich habe keine
Geheimnisse.«
    »Mich würde interessieren, worum es sich bei
Krimiliteranalogie eigentlich handelt«, erkundigte sich Maja. »Ich habe diesen
Begriff nie zuvor gehört. Und in meinem Fremdwörter-Duden ist er leider nicht
zu finden.«
    Die Frage imponierte Palinski. Seit er das Institut vor
nunmehr über drei Jahren gegründet hatte, hatte er in seiner Funktion als
Leiter mit mehreren Hundert Menschen zu tun gehabt. Alte und junge, gescheite
und dumme, gebildete und ungebildete. Und dazu vielleicht auch ein paar
wirklich Intelligente, die sich etwas darunter vorstellen konnten.
    Aber nur ganz wenige hatten den Mut gehabt zu fragen, was
unter der Wortschöpfung Krimiliteranalogie eigentlich zu verstehen war. Lieber
hatten sie aus Angst, sich durch ihre Unwissenheit möglicherweise zu blamieren,
den Mund gehalten und waren im Status der Ignoranz verharrt.
    So viel Offenheit verdiente auf jeden Fall Anerkennung.
    »Das ist eine lange Geschichte«, winkte er Maja gegenüber ab.
»Wenn Sie und Jan etwas Zeit haben«, er deutete auf den Eingang zum Institut,
»dann erzähle ich Ihnen das Ganze bei einem exquisiten Cappuccino.«
    Er drehte sich um und öffnete die Türe. Maja
blickte Jan fragend an, doch der hatte seine Antwort bereits mit einem ersten
Schritt hin zum Eingang, also zum Kaffee mit der geschäumten Milch obendrauf,
deutlich gemacht.
    Eine Viertelstunde später wussten die beiden Neuen, welche
Bewandtnis es mit der Krimiliteranalogie hatte und bewiesen mit ihren Fragen
und Kommentaren, dass sie verstanden, welche Ziele damit verfolgt wurden.
    Palinski fand die beiden Studenten, sie aus
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