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Diabolos (German Edition)

Diabolos (German Edition)

Titel: Diabolos (German Edition)
Autoren: torsten scheib , Herbert Blaser
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Türrahmen, bereit, den Wachtmeister so schnell wie möglich loszuwerden.
    »Mit den Ladies hier ist nicht zu spaßen, merken Sie sich das. Und halten Sie sich von deren Hutnadeln fern. Die sind kein Spaß, Sir.«
    Damit tippte er sich an die Stirn, wie es die Amerikaner lächerlicherweise stets tun, und verschwand. De Quincey hörte die morsche Holztreppe unter seinem Gewicht knacken und ächzen, bis er alle fünf Stockwerke nach unten gemeistert hatte. Dann packte er den Regenschirm, den ihm seine Mutter geschenkt hatte, schob ihn hinter den morschen Klingeldraht und zog heftig an. Mit einem Ruck riss er ihn aus den Halterungen und zerrte ihn aus dem staubigen Messingknopf. Es klingelte noch einmal protestierend, dann war Stille. Bis auf eine Tür im dritten Stock, die beinahe lautlos geschlossen wurde. Aber nur beinahe.

    De Quincey war ein äußerst geduldiger und wählerischer Sammler von niedlichen Dingen. Zumindest bis zu seinem völlig unerwarteten Tode. Er ging stets vorsichtig vor, immer etwas zu umsichtig, um nur ja keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Doch wie hätte er wissen können, dass sich unter der alten Wohnung, die ihm seine Mutter als Einziges hinterlassen hatte, die größten Schnüffelnasen Englands zusammengerottet hatten! Unwillkürlich dachte er an spitze Haarnadeln und Mrs. Tumbles violetten Dutt. Er schauderte und ging eilig in die Küche. Dort holte er eine Plastikbox aus dem Kühlschrank, in der er früher seine Brotzeit mit in die Schule genommen hatte. Ein junger Kanarienvogel lag darin, eingebettet in Küchenpapier. De Quincey strich mit dem kleinen Finger vorsichtig über das flaumige Gefieder und die geschwollenen Augenlider.
    »Wie süß du bist«, murmelte er. »So viel niedlicher als dieser faltige Köter. So viel niedlicher.«
    Er fischte eine kleine metallene Schatulle aus dem Besteckkasten und öffnete sie. Er entnahm ein winziges Skalpell, eine kleine Spreizzange, eine kleine Säge, die man auf verschiedene Größen einstellen konnte und eine Art minimalistischen Eisschaber. Das Petrischälchen war schon vor Monaten kaputtgegangen und so entsorgte er es in der vollen Mülltüte. Etwas Blut und Fell hingen noch daran, von einer der Krallen Giselles, die er am Vortag zerlegt hatte, doch das kümmerte ihn nicht sonderlich. Er würde den Müll gleich morgen raustragen, sobald sich die Lage etwas entspannt hatte und das Greisengedächtnis der Alten seines Amtes waltete. Er griff vorsichtig nach der kleinen Spreizzange und öffnete mit bloßen Fingern den Brustraum des Vogels, einen Schnitt, den er bereits des Nachts gemacht hatte. Es kostete ihn immer etwas Mut, eines der niedlichen Wesen zu öffnen. Sie zu erkunden, machte ihn eigentlich krank, doch er musste einfach jedes einzelne Teilchen ihrer Körperchen sehen. Das kleine Herzchen und die Organe, die zarte Haut, die Äugelein. Es war ein Zwang, diese süßen Geschöpfe ganz sehen zu wollen. Jeden Zoll ihres Seins.
    De Quincey legte den Spreizer in die Öffnung und betrachtete kurz die bereits matten Organe. Gestern hatten sie noch so verlockend geglänzt. Äußerst bedauerlich. Als Autodidakt legte er sich eigene Techniken zu, verfolgte jahrelang Fernsehserien auf BBC, die sich mit dem Sezieren beschäftigen. Leicht verärgert entnahm er Organ für Organ und legte es in eine leere Küchenrolle. Dann zog er dem Vögelchen das Gefieder mit der zarten Haut darunter ab, wobei das meiste in Fetzen an seinen Fingern kleben blieb. Verärgert wusch er sich die Hände, blickte in sein bleiches Gesicht, das ihm aus dem Fenster der Mikrowelle mitleiderregend entgegenblickte. Warum war er nie selbst so niedlich gewesen? Warum hatte nie jemand gesagt: »Mrs. Emma De Quincey, Sie haben aber einen süßen Sohnemann!« Stattdessen war er stets der Dürre, der Schlaksige, der Hagere mit der großen Nase gewesen. Doch nie der Knuddelige. Nie eines der Kinder mit dem großen Kopf auf einem weichen, runden Körper, nie der mit den süßen Strubbelhaaren. Noch nicht einmal bei seiner Geburt.
    Mit einem weinerlichen Seufzen drehte er sich um und hasste sich wieder einmal selbst. Der Vogel musste weg. Und zwar ganz. Also stopfte er ihn zu seinen Organen in die Küchenrolle und knickte sie einige Male, um zu verhindern, dass sich die Vogelteilchen ungewollt gegen die transparente Mülltüte schmiegten.
    Als die Sonne untergegangen war, warf De Quincey den Müllsack über den Zaun eines Reihenhauses im östlichen Teil der Stadt. Er kletterte
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