Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
zuständige Sachbearbeiter in diesem Fall war Meik Simmering (siehe Kapitel 1 ).
Natürlich kann und soll das Jugendamt nicht jedes Kind, das von entnervten Eltern in den Arm gekniffen worden ist, unter seine Fittiche nehmen. Aber von den Verantwortlichen kann erwartet werden, dass sie jeden Einzelfall aufmerksam und mit der gebotenen Ernsthaftigkeit prüfen. Und in diesem Fall sprach alles dafür, dass Alina Gerlicher in akuter Gefahr schwebte, von ihrer Mutter folgenschwer misshandelt zu werden.
Meik Simmering dachte kurz nach und traf eine unbürokratische Entscheidung. »Wir greifen der jungen Mutter für ein Vierteljahr mit einer Familienhelferin unter die Arme.«
Zwei Monate später war Alinas Schreikind-Phase endlich vorbei. Anschließend hatten Mutter und Tochter jede Menge Schlaf nachzuholen.
Sabrina und Alina Gerlicher machten einen glücklichen und entspannten Eindruck, als sie Meik Simmering im Jugendamt besuchten, um ihm für sein Engagement zu danken.
Erweiterte Elternschaft
Alinas und Sabrinas Geschichte hat nur zufällig ein Happy End. Statistisch gesehen hatten die beiden kaum eine Chance, die dringend nötige Hilfe zu erhalten,
bevor
es zu einer schwerwiegenden Misshandlung gekommen war.
In der meist anonymen Wohnumgebung unserer heutigen Großstädte sind, wie schon gesagt, Kinder ressourcenarmer junger Eltern besonders gefährdet, Misshandlungsopfer zu werden. Zu diesen knappen Ressourcen gehören nicht nur finanzielle Mittel, sondern mehr noch ein tragfähiges soziales Netzwerk, das die Eltern mit Rat und Tat unterstützt. Wer weder über die einen noch über das andere verfügt, gerät sehr schnell an seine Grenzen. Das gilt in nochmals gesteigertem Ausmaß für alleinerziehende Elternteile – in aller Regel junge Mütter. Wie Sabrina Gerlicher.
Ganz anders in Frankreich oder Skandinavien: Dort ist es weithin selbstverständlich, dass sich Eltern mit qualifizierten Kita-Erzieherinnen die Betreuung und Förderung der Kinder teilen. Die Erzieherinnen übernehmen dabei gleichsam die Aufgaben, die in den Großfamilien und dörflichen Gemeinschaften früherer Zeiten den Großmüttern, Tanten und Nachbarinnen zugefallen war. Wäre Alina Gerlicher in Schweden zur Welt gekommen, so hätte sich Sabrina die Betreuung ihrer Tochter von Anfang an mit gut ausgebildeten Krippen-Erzieherinnen teilen können.
Durchaus nicht alle Menschen, die Mutter oder Vater werden, sind fähig und willens, Kinder angemessen zu betreuen und zu erziehen. In Ländern mit hochwertigem Kita-System muss diese mangelnde Eignung und/oder Bereitschaft der leiblichen Eltern nicht von den Kindern ausgebadet werden. Denn die bestens ausgebildeten Erzieherinnen gleichen etwaige elterliche Defizite mühelos aus.
Gerade in Deutschland bekommt man oftmals den Einwand zu hören, dass die Erziehung der Kinder allein Sache der Familien sein müsse. Wohin es führe, wenn man dem Staat die Kinderbetreuung anvertraue, zeigten die Erfahrungen in der DDR oder im Nazireich, heißt es immer wieder.
Dazu ist zu sagen, dass wir in einem demokratischen Rechtsstaat leben. Die Gefahr, dass Kinder in heutigen deutschen Kitas mit extremistischer Ideologie infiltriert werden, ist gleich null. Außerdem besteht zumindest in den Städten schon derzeit die Möglichkeit, zwischen kommunalen Kitas und Angeboten freier oder auch kirchlicher Träger zu wählen.
Das schwedische Beispiel zeigt im Übrigen, dass die Eltern sich durch die Erzieherinnen nicht etwa bevormundet, sondern in aller Regel entlastet fühlen. Die Erzieherinnen sind tagtäglich mit den Eltern im Kontakt, tauschen sich mit ihnen über die Entwicklung der Kinder und individuell geeignete Fördermaßnahmen aus. Die Eltern bleiben so aktiv an der Erziehung ihrer Kinder beteiligt, obwohl diese meist viel mehr Zeit in der Kita als zu Hause verbringen.
Aber die Erzieherinnen sind auch aufmerksam und selbstbewusst genug, um Probleme und Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen und anzusprechen. Dass Kinder in der Familie unbemerkt misshandelt werden, ist in Ländern mit gesellschaftlich verankertem Erziehungsnetzwerk kaum vorstellbar.
Die Präventions- und Frühfördermaßnahmen erschöpfen sich keineswegs in der Vermeidung bzw. Früherkennung häuslicher Gewalt. Bei Kindern mit Migrationshintergrund etwa wird in Schweden großer Wert darauf gelegt, dass sie in beiden Kulturen verwurzelt sind – in ihrer neuen Heimat, aber auch in ihrer Herkunftskultur. Polnischstämmige Kinder
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