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Deutschland 2.0

Titel: Deutschland 2.0
Autoren: Claus Christian Malzahn
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sortieren. Kein Witz: Außer der CSU fährt nur noch die konservative Partei Maltas
     Ergebnisse über vierzig Prozent ein.
    Morgens um halb elf auf dem Marienplatz in München: Die Jugendlichen, die gerade die Schule schwänzen und in den Apple-Store
     strömen, um den neuen iPod auszuprobieren, dürfen zwar noch nicht wählen. Aber im Blick haben muss ein Politstratege, der
     noch an Volksparteien glaubt, diese Kids natürlich schon. Dabei wäre es mit einem aufmunternden Lächeln, Schulterklopfen und
     flotten Sprüchen – »toller App, die CSU hat übrigens auch ’ne geile Webpage« – sicher nicht getan, denn im Apple-Store versammelt
     sich Tag für Tag das Zielpublikum von Grünen, FDP und natürlich der Piratenpartei. Stoibers Wahlslogan von »Laptop und Lederhose«
     war immerhin der Versuch, diese neuen gesellschaftlichen Segmente an bayerische Traditionen zu binden und ihnen die Fliehkräfte
     zu nehmen. Slogans alleine reichen aber nicht. Der bayerische Ministerpräsident und CS U-Chef Horst Seehofer hat im vergangenen Herbst deshalb die junge Bundestagsabgeordnete Dorothea Bär zur Internet-Beauftragten der
     CSU ernannt. Im Parteijargon heißt sie nun »Piraten-Doro«, sie soll Tuchfühlung mit Bloggern und Computer-Nerds aufnehmen
     und sich überlegen, wie man diese Leute an die Christlich-Soziale Union binden kann. Mission impossible? Immerhin gibt es
     ein Problembewusstsein.
    Lassen wir den Blick weiter über den Platz schweifen. Männer und Frauen im Business-Look hasten in den Untergrund, um die S-Bahn Richtung Flughafen nicht zu verpassen. Diese Leute sind für unseren Strategen erreichbar, auch wenn sie gerade keine Zeit
     haben. Der Kerl mit Zwirbelbart und Lederhose gehört ebenfalls zum Stammpublikum, die Kellnerin, die gerade mit der U-Bahn aus der Vorstadt gekommen ist, um ihren Dienst im Augustiner anzutreten, sicher auch. Rechts biegt eine junge Frau mit Kinderwagen
     ums Rathaus, das Kleinkind hät ein Fläschen Gemüsebreiin den Händen. Sieht gut aus. Aber dann erkennt unser Volkspartei-Scout aus sicherer Distanz, dass die junge, adrett gekleidete
     Dame lauter Biokost im Jutebeutel trägt. Das wird schon schwieriger, Grünen-Alarm! Jetzt will sie mit dem Kinderwagen auch
     noch die Rolltreppe runter, das ist wegen einer E U-Richtlinie inzwischen verboten. Also schnell mitanpacken und auf Brüssel schimpfen, das wirkt immer. Eine sichere Stimme für die CSU
     ist die Frau aber nicht.
    Wieder rauf auf den Marienplatz. An uns ist gerade eine türkische Familie vorbeigelaufen: Die Frau trägt Kopftuch, der Mann
     steuert zielstrebig auf seinen Obst- und Gemüseladen hinter dem Viktualienmarkt zu, seine Söhne helfen ihm beim Kistenschleppen,
     die Töchter erledigen mit der Mutter noch ein paar Einkäufe. Ganz komplizierter Fall. Wer weiß, was in dieser Familie los
     ist. Sprechen die überhaupt Deutsch? Muslimische Wähler für eine katholisch grundierte Partei, die fünfzig Jahre gebraucht
     hat, bis sie einen Protestanten zum Ministerpräsidenten gemacht hat? Unser Stratege sitzt die türkische Familie lieber aus.
     In Niedersachsen hat die Schwesterpartei der CSU gerade eine Deutsch-Türkin zur Sozialministerin gemacht und eine Ostdeutsche
     ins Bildungsressort gesetzt. Aber noch bevor die Dame ins Amt kommt, gibt es Ärger in der Partei: Aygül Özkan wollte tatsächlich
     die Kruzifixe in den Schulen abhängen. Das geht gar nicht und in Bayern sowieso nicht. Für solche Personalexperimente ist
     es hier einfach noch viel zu früh. Andererseits, das weiß auch unser Scout, kann die CSU die stetig wachsende Gruppe türkischstämmiger
     Wähler in Deutschland nicht einfach der Konkurrenz überlassen. Sonst bleiben die fünfzig Prozent der Stimmen nur eine vage
     Erinnerung an jene Zeiten, als das Publikum auf dem Marienplatz noch homogener war.
    Unser Scout steigt ins Taxi, er hat noch einen Termin in der Parteizentrale. Vielleicht landet er ja beim Chauffeur mit seinem
     christlich-sozialen Volksparteiprogramm? Der Mann käme inFrage: Er ist Mitte vierzig, auf dem Beifahrersitz liegt der ›Münchner Merkur‹. »Ich muss zur CSU.   Kennen Sie den Weg?« »Do muss ich in Nowwi guggn!«, antwortet der Taxifahrer in breitem Sächsisch. Unser Scout hat es heute
     wirklich nicht leicht.
    Die babylonische Wirklichkeit des Münchner Marienplatzes muss Volksparteichef Horst Seehofer berücksichtigen, wenn er mit
     Angela Merkel und Guido Westerwelle in Berlin am Regierungsprogramm
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