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Deutschland 2.0

Titel: Deutschland 2.0
Autoren: Claus Christian Malzahn
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in der die Leute vielleicht
     nicht im Luxus schwelgten, es aber im Großen und Ganzen gemütlich warm hatten. Mit der staatlichen Teilung von 1949 bis 1989
     ging die Freiheit in Deutschland einen weltweit einmaligen Sonderweg, wenn man von den bizarren Verhältnissen im stalinistischenNord- und dem demokratisch verfassten Südkorea einmal absieht. Mit den politischen Verhältnissen in der DDR verbinden viele
     Deutsche heute jedenfalls etwas anderes als eine Diktatur, die ein emanzipiertes Individuum in die Enge treibt und malträtiert.
     Für manche hat sich der reale Sozialismus auf deutschem Boden im Rückblick sogar in ein zwar streng geregeltes, alles in allem
     aber recht soziales Refugium verwandelt.
    Es ist kein rein deutsches Phänomen, dass der Kommunismus im Rückblick seinen Schrecken verliert. Auch in Polen, wo während
     des Kriegsrechts mindestens 56   Menschen bei Streiks und Demonstrationen ihr Leben ließen und Dutzende weitere mysteriöse Todesfälle nie aufgeklärt wurden,
     sehnte sich Umfragen zufolge zu Anfang des neuen Jahrtausends etwa die Hälfte der Bevölkerung nach dem alten Regime zurück.
     Adam Michnik, einer der Vordenker der Solidarnosc und wohl der wichtigste polnische Intellektuelle, schrieb damals resigniert:
     »Die Menschen wollen keine Freiheit, weil diese sie der Sicherheit beraubt.«
    Das ist ein hartes Urteil über ein Volk, das sich Anfang der achtziger Jahre wie kein anderes im real existierenden Sozialismus
     Freiheiten erkämpft hatte. Von den vierzig Millionen Polen hatten sich kurz vor Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981
     immerhin neun bis zehn Millionen Menschen in der Solidarnosc organisiert – also praktisch jeder Vierte. Die Verklärung der
     kommunistischen Vergangenheit nennt Michnik heute schlicht das »Gefangenensyndrom«. Solange der Mensch im Gefängnis sitze,
     träume er von der Freiheit. »Doch im Gefängnis hat er eine gewisse Sicherheit: Er weiß, wann er essen, schlafen, sich waschen
     wird. Wenn er aus dem Gefängnis kommt, ist er zwar frei, aber die Sicherheit ist weg. Er beginnt sich zu sorgen: Mein Gott,
     wo werde ich schlafen, was werde ich essen, wo werde ich wohnen? Und er fängt an, sich nach dem Gefängnis zu sehnen, wo alles
     für ihn erledigt wurde«, klagte Michnik im April 2004 in einem Interview mit der Schweizer ›Weltwoche‹.
    Seine Analyse besitzt einen gewissen universellen Charakter. Dennoch gibt es in der postkommunistischen Geschichte Polens
     und Ostdeutschlands bedeutende Unterschiede. In der Ex-DDR musste nach der Wende niemand hungern, Milliarden wurden in Infrastruktur
     und Wirtschaft gepumpt, um die neuen Bundesländer zu unterstützen. Während die Polen bis heute in ihrer Zloty-Ökonomie stecken,
     bekamen die Ostdeutschen noch vor der Vereinigung am 3.   Oktober 1990 die D-Mark . Die Polen mussten den wirtschaftlichen Umbruch dagegen fast völlig allein bewältigen. Vor allem im bäuerlich geprägten Osten
     des Landes wurden ganze Gebiete entvölkert. Es gab keine Arbeit mehr – und nicht den Hauch staatlicher Unterstützung.
    Ich habe als Korrespondent des ›Spiegel‹ um die Jahrtausendwende in Polen erlebt, wie hart das vor allem ältere Menschen getroffen
     hat. Mitte des Monats war ihre karge Pension aufgebraucht, viele Rentner ließen beim Lebensmittelhändler anschreiben und ernährten
     sich bis zur nächsten Überweisung von Brot und Speck. Ich bin in Polen stundenlang durch Regionen gefahren, in denen es so
     gut wie keine Frauen unter dreißig mehr gab. Sie heirateten lieber in der Stadt – oder im Ausland. Die jungen Bauern blieben
     zurück, ohne die leiseste Aussicht auf eine wirtschaftliche Perspektive. In einer mittelgroßen ostpolnischen Stadt, nicht
     weit der ukrainischen Grenze, fiel mir die stattliche Größe des Busbahnhofs auf. Ein gutes Drittel der rund 30   000   Bewohner verdiente sein Geld in Brüssel, London, Dublin oder Bordeaux. Sie putzten Wohnungen oder Hotels, zimmerten Möbel,
     reparierten Autos, sorgten sich um die Kinder fremder Leute, während ihre eigenen daheim in Polen von den Großeltern großgezogen
     wurden. Zur Arbeit fuhr man mit Linienbussen, blieb ein paar Monate, kam dann wieder mit dem Bus zurück. Das alles vollzog
     sich fast geräuschlos, ohne große Klagen. Die neuen Zeiten waren hart, aber nicht zu ändern. Und die neue Freiheit war auch
     ein Fluch.
    In der Ex-DDR wären solche Szenen wohl unvorstellbar. Dass die neue Freiheit auch Opfer
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