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Deutschland 2.0

Titel: Deutschland 2.0
Autoren: Claus Christian Malzahn
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Stasi-Offizier, was für ein erbärmliches Leben als gewissenloser
     Spitzel er eigentlich führt – er liest ein Liebesgedicht von Bertolt Brecht:
    Erinnerung an die Marie A.
     
    1
    An jenem Tag im blauen Mond September
    Still unter einem jungen Pflaumenbaum
    Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
    In meinem Arm wie einen holden Traum.
    Und über uns im schönen Sommerhimmel
    War eine Wolke, die ich lange sah
    Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
    Und als ich aufsah, war sie nimmer da.
     
    2
    Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
    Geschwommen still hinunter und vorbei.
    Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
    Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
    So sag ich dir: ich kann mich nicht erinnern
    Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst.
    Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
    Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst.
     
    3
    Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
    Wenn nicht die Wolke dagewesen wär
    Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
    Sie war sehr weiß und kam von oben her.
    Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
    Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
    Doch jene Wolke blühte nur Minuten
    Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.
    Die Idee, dass sich ein Stasi-Schinder über die Lektüre eines Liebesgedichts des Kommunisten Bertolt Brecht zurück in einen
     ethischen Menschen verwandelt, muss natürlich einen Idealisten wie Biermann begeistern. Bleibt die Frage: Warum wurde sein
     Leben eigentlich noch nicht verfilmt? Spannend genug wäre es, denn es war durchdrungen von der Suche nach Freiheit in dem
     einst so zerrissenen Land. Doch nach 1945 mussten die Deutschen auch lange warten, bis man ihnen die Weiße Rose, den Widerstand
     des 20.   Juli oder einen antifaschistischen Helden wie Georg Elser im Kino vorstellte.
    In den öffentlichen deutschen Debatten um die DDR und ihre Erblast ging es in den vergangenen zwanzig Jahren merkwürdigerweise
     meist nicht um das Hohelied des Mutes, sondern um die Verteidigung des Opportunismus. Günter Grass entdeckte in seinen Romanen
     plötzlich die »kommode Diktatur«, in der es sich so schlecht gar nicht leben ließ, und wenn wieder einmal ein Informant der
     Stasi enttarnt wurde, konnte der Beschuldigte sichergehen, dass ihn irgendein Westdeutscher mit der Bemerkung »Wer weiß, was
     ich getan hätte« schon verteidigen würde. Politiker, denen Verrat und Spitzelei nachgewiesen werden konnten, retteten sich
     voller Sündenstolz in die euphemistische Parole »Auch ich habe eine Biografie« – und kamen nicht selten damit durch. Die neue
     Freiheit im geeinten Deutschland eröffneteeben auch die Möglichkeit, sich die jüngere Geschichte so in Form zu biegen, wie man wollte. Manche simplen Wahrheiten, die
     in den Jahren 1989   /   90 kaum jemand bestritten hätte, wurden später in Watte gepackt und weggeschlossen: Die DDR war 1989 wirtschaftlich bankrott.
     Wenn die Bundesrepublik sich einer Vereinigung verschlossen hätte, wäre der ostdeutsche Staat dennoch abgestorben – freilich
     ganz anders, als sich Lenin das in seiner 1917 verfassten kommunistischen Utopie über ›Staat und Revolution. Die Lehre des
     Marxismus und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution‹ vorgestellt hatte. Ob mit oder ohne Wiedervereinigung: Der
     Sozialismus auf deutschem Boden hatte keine Zukunft. Die meisten Bürger der DDR wollten endlich so leben wie ihre Landsleute
     im Westen. Sie hielten ihren Staat keineswegs für eine sozialistische Wärmestube, in der sich niedliche Ampelmännchen und
     das Sandmännchen freundlich gute Nacht sagten, sondern hatten im August 1989 ziemlich große Angst vor einem blutigen Showdown.
    Trotz dieses beklemmenden Sommers, in dem der Arbeiter- und Bauernstaat völlig aus den Fugen geriet, ist im Rückblick oft
     von der »Nischengesellschaft« die Rede. Dieses Bild scheint heute fast bestimmend zu sein. Natürlich gab es ein richtiges
     Leben im falschen Staat. Das würde auch kein Pole bestreiten. Es wurde geliebt, gelacht, geweint, geheiratet, getauft, gestorben,
     geboren – wie im Westen auch. Doch während man sich in Polen in fast jeder Familie auch an Jahrzehnte des Widerstands erinnert
     – die Solidarnosc mit ihren vor dem Verbot fast zehn Millionen Mitgliedern bildete die größte Selbstorganisation der Arbeiterbewegung
     in der ganzen Welt   –, gibt es in Deutschland zu solchen gesellschaftlichen Memoiren kein Gegenstück. Diejenigen, die ein
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