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Deutsches Elend. 13 Erklärungen zur Lage der Nation

Deutsches Elend. 13 Erklärungen zur Lage der Nation

Titel: Deutsches Elend. 13 Erklärungen zur Lage der Nation
Autoren: Arno Schmidt
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religiöse polemische Stellen‹ meiner Bücher; so ergreife ich doch gern die Gelegenheit, hier ein für alle Mal eine grundsätzliche Erklärung abzugeben. Wer durchaus seine Ruhe haben will, dem wünsche ich kurz die ewige Ruh', und lasse ihn bis zum nächsten Einberufungsbefehl bei Dornröschens einziehen; den ehrlich betroffenen Fragern will ich mein Großbeispiel erzählen, die Ermutigung für meine beständige Opposition; die Geschichte, wie der unermüdlich=tapfere Widerspruch eines Schriftstellers seinerzeit doch einmal diverse Großschweinereien von Thron & Altar verhindert hat:
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    Zu Toulouse lebte im Jahre 1761 ein angesehener protestantischer Kaufmann namens Jean Calas. Einer seiner Söhne hatte sich zum Katholizismus konvertiert; der zweite wurde plötzlich tot im Vaterhause aufgefunden. Und durch die niedere katholische Geistlichkeit wurde unverzüglich dieses Gerücht lanziert : der Vater habe den Sohn eigenhändig umgebracht, um nicht auch noch dessen Übertritt erleben zu müssen ! Prompt schaltete sich ›Die Justiz‹ ein; und nach einem Schauprozeß von nur zwei Stunden Dauer wurde Calas, trotz aller Unschuldsbeteuerungen, zum Tode durch das Rad verurteilt, und tatsächlich hingerichtet.
    Nur ein Jahr danach ließ der Bischof von Castros ein Protestantenmädchen, die Tochter Paul Sirvens, mit Gewalt entführen und ›bekehren‹; das Mädchen war jedoch unter der Behandlung nicht nur katholisch, sondern auch irrsinnig geworden; und stürzte sich, endlich nach Hause entlassen, dort flugs in den Brunnen. Wiederum wurde, im eklen Zusammenspiel von Justiz und Klerus, der Vater des Mordes bezichtigt – der jedoch wartete diesmal den Prozeß nicht ab, sondern floh in die Schweiz.
    Und zwar nach Ferney am Genfer See.
    : Dort nämlich wohnte damals ein Mann, dessen Name – und sei es nur um dieser beiden Fälle willen ! – drohend in jedem Parlament, jeder Kirche, jedem Gerichtssaal, angeschlagen stehen müßte : Voltaire. Mit unermüdlicher Tatkraft griff er, nachdem er die Überzeugung der Unschuld, sowohl von Sirven als Calas, gewonnen hatte, beide Fälle auf. Machte Eingaben an die Regierung Frankreichs; veröffentlichte Zeitungsartikel in der gesamten europäischen Presse; schrieb Broschüren, Pamphlete; hielt Reden; alles dies ätzend, oder, wie der Bürger sich ausdrücken würde, ›brutal, radikal, shocking‹. Nach Jahren ehrenhaftester Wühlarbeit gegen die Staatsgewalt erreichte er, daß beide Prozesse neu aufgerollt, und diesmal ernstlich behandelt wurden; in jedem Fall ergab sich, daß Sirven wie Calas unschuldig verurteilt worden waren; der Tote wurde ›rehabilitiert‹ – lachen wir also bitte nicht über die verrufenen Ostblockstaaten in denen es heute leider manchmal ähnlich hergeht.
    Einen bitteren Trumpf aber konnte Voltaire am Ende noch daraufsetzen : zwei Stunden, schrieb er, haben sie einst gebraucht, um einen ehrlichen Mann zum Tode zu verurteilen; neun Jahre, um festzustellen, daß er unschuldig war – und auch das nur, nachdem ich sie dazu zwang !
    Voltaire aber hieß seitdem bei den Bauern seines Dorfes : ›l'homme au Calas‹.
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    Aber nicht deswegen erzählte ich die rührende Anekdote : die Geschichte ist noch keineswegs zu Ende:
    Erst in unserem Jahrhundert, nachdem sämtliche Beteiligten längst zu Staub zerfallen waren, ergab sich aus den Staatsarchiven, daß Voltaire weit mehr geleistet hatte, als etwa ›nur‹ zwei Justizmorden in den Arm zu fallen. Die Randbemerkungen auf den Akten, in der eigenen Handschrift des Ministers St. Forentin, verrieten das Unglaubliche : daß man staatlicherseits die Prozesse gegen Calas und Sirven als ›Modellfälle‹ angesetzt hatte ! Als lokale Vorversuche zu einer neuen allgemeinen Protestantenverfolgung, unter systematischer Aufhetzung der katholischen Bevölkerung : Hunderttausende wären dem Terror zum Opfer gefallen, hätten nicht zornige Energie und rasender Widerspruch eines großen Einzelnen dem perfiden ›Schicksal‹, dem unverantwortlichen ›politischen‹ Irrsinnsmanöver, vorgebeugt!!
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    Fünfzehn Jahre war ich, als ich zum erstenmal die Geschichte las; mit Fünfzehn Jahren schwor ich zur Fahne des ›Homme au Calas‹; auf dieser Fahne aber steht : ›Ni Dieu ni Maitre‹. Sie verpflichtet die ihr Folgenden zu schärfstem Aufmerken auf Politik und wer immer solche betreibt; das heißt: Regierungen, Kirchen, Militär. Und zum schärfsten öffentlichen Widerspruch, sobald wir einen Mißstand zu
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