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Deutsche Geschichte

Deutsche Geschichte

Titel: Deutsche Geschichte
Autoren: Manfred Mai
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Chance.
    Tatsächlich stellte der neue Bundeskanzler Willy Brandt seine Regierungserklärung unter das Motto: Mehr Demokratie wagen! »Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert. Wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten. Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.«
    Bei diesem Vorhaben wurde die Regierung von zahlreichen »Linksintellektuellen« unterstützt. Mit Heinrich Böll und Günter Grass engagierten sich auch die bedeutendsten deutschen Nachkriegsschriftsteller für Willy Brandt und die SPD. Viele junge Leute machten sich auf den »langen Marsch durch die Institutionen«, um die Gesellschaft zu verändern. Andere wollten lieber außerhalb der etablierten Parteien mehr Demokratie wagen. Sie bildeten die ersten Bürgerinitiativen, aus denen die Anti-Atomkraft-, die Friedens- und die Frauenbewegung hervorgingen. Teile davon gründeten später die Partei der »Grünen«, um auch auf parlamentarischer Ebene mitreden und mitbestimmen zu können.
    Nur einer kleinen Minderheit ehemaliger APO-Mitglieder dauerte die schrittweise Veränderung der Gesellschaft zu lange. Sie wollten eine Revolution, und sie wollten sie sofort. Weil dieses Ziel mit friedlichen Mitteln nicht zu erreichen war, erklärten sie dem verhassten Staat den Krieg. Sie gingen in den Untergrund, und eine Zeit lang gelang es ihnen, mit Sprengstoffanschlägen und der Entführung und Ermordung prominenter Männer aus Politik und Wirtschaft das Land in Schrecken zu versetzen; aber sie hatten nie eine ernsthafte Chance, an die Macht zu kommen. Die deutsche Bevölkerung wollte sich von Terroristen nicht »befreien« lassen, weil sie mit ihrem Leben und mit ihrem Staat im Großen und Ganzen zufrieden war.

Wandel durch Annäherung
    Neben den »inneren Reformen« wollte die sozial-liberale Koalition vor allem die Beziehungen der Bundesrepublik zu den Staaten des Ostblocks, insbesondere zur DDR verbessern. »Zwanzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik müssen wir ein weiteres Auseinanderleben der deutschen Nation verhindern, also versuchen, über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen«, sagte Willy Brandt vor dem Bundestag. Dieser Absicht folgte die »neue Ostpolitik«, über die in den Parteien heftig und auf hohem Niveau gestritten wurde. Die Debatten über die »Ostverträge« gelten als Sternstunden der deutschen Parlamentsgeschichte. In ihnen ging es wieder einmal um die Frage, was Deutschland eigentlich sei und sein solle.
    Durfte die Regierung die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze anerkennen und damit auf die ehemals deutschen Gebiete im Osten verzichten? Durfte sie von der Existenz zweier deutscher Staaten ausgehen und damit die deutsche Einheit preisgeben? Musste das Ziel deutscher Politik die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 sein? Oder musste die Nationalstaatlichkeit auf dem Weg in ein vereintes Europa nicht vielmehr überwunden werden?
    Ohne diese großen Fragen aus den Augen zu verlieren, schloss die Regierung 1970 mit der Sowjetunion und mit Polen und 1972 mit der DDR Verträge, in denen das zukünftige Neben- und Miteinander geregelt wurde. Die CDU/CSU lehnte diese Verträge entschieden ab und warf der Regierung den Ausverkauf deutscher Gebiete und deutscher Interessen vor. Sogar als »Verzichtspolitiker« wurden Sozialdemokraten und Liberale beschimpft – wie einst in der Weimarer Republik.
    »Wir haben auf nichts verzichtet, was nicht längst verloren war«, hielt Willy Brandt dem entgegen. Er war zutiefst davon überzeugt, dass niemand das Recht hatte, die bestehenden Grenzen in Europa gewaltsam zu verändern. Und er war ebenso überzeugt, dass die kommunistischen Regime nicht von außen gestürzt werden konnten. Allenfalls konnten sie durch mehr Kontakte zwischen den Regierungen und den Menschen langsam verändert werden. »Wandel durch Annäherung« lautete die Formel für diese »Politik der kleinen Schritte«.
    Als Folge dieser Politik nahm der Reiseverkehr von West nach Ost kontinuierlich zu. Und auch die Zahl der Reisen von Ost nach West in »dringenden Familienangelegenheiten« erhöhte sich. Durch diese wechselseitigen Kontakte sahen viele Menschen in der DDR immer deutlicher, dass die SED-Propaganda nicht der Wirklichkeit entsprach. Weder war hinter dem »antifaschistischen Schutzwall« die kapitalistische
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