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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral
Autoren: Boris von Smercek
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sich aufsteigen, wie so oft angesichts der vielen Ungerechtigkeiten auf dieser Welt. Während die Wilderer lärmten und lachten und sich über das Geld unterhielten, litt das Kalb unter dem Verlust seiner Mutter. Es würde selbst bald sterben, denn es war höchstens zwölf oder dreizehn Monate alt. Elefantenbabys ernährten sich in den ersten zwei Lebensjahren ausschließlich von Muttermilch.
    Der tonnenschwere Körper der Elefantenkuh lag reglos auf der Seite. Dort, wo normalerweise die Stoßzähne hervortraten, befanden sich jetzt nur noch zwei blutige Löcher, die beim Heraussägen und –brechen des Elfenbeins entstanden waren. Die anderen Kadaver sahen genauso aus. Insgesamt hatte die Herde aus zwei Elefantenbullen, sieben Weibchen und dem Kalb bestanden.
    Der Mann hinter dem Gebüsch seufzte. Indische Elefantenweibchen hatten keine Stoßzähne. Afrikanische schon. Deshalb wurden die Tiere hier stets herdenweise umgebracht, brutal und berechnend, meist durch gezielte Schüsse in den Kopf.
    Um diese Jahreszeit war es sogar besonders einfach, an Elfenbein heranzukommen. Im späten September, gegen Ende der Trockenzeit, zog es viele Tiere in das Einzugsgebiet des Okawango, denn der Fluss mündete nicht ins Meer oder in ein anderes Gewässer, sondern versiegte sprichwörtlich im Sand. Das Wasser versickerte in einem weiten Delta im Boden der Kalahari und bescherte den Tieren in Zeiten der aufkommenden Dürre ein wahres Paradies. Die Wilderer mussten also nur in der Nähe des Wassers warten, bis die Elefanten erschienen. Die Beute kam von allein zu den Jägern.
    Wieder ertönte das Klagelied des Kalbs über der nächtlichen Savanne. Diesmal wollte es gar nicht mehr aufhören. Allmählich schien es den Wilderern auf die Nerven zu gehen. Sie diskutierten kurz, aber lautstark; dann legte der älteste von ihnen seinen Eintopf beiseite, griff nach seinem Gewehr und erhob sich. Nach wenigen Schritten blieb er stehen, um die Waffe anzulegen. Er zielte genau auf den Kopf des Elefantenbabys.
    Ein ohrenbetäubender Schuss donnerte über das Land. Die vier Männer am Lagerfeuer lachten auf. Aber nicht das Elefantenkalb fiel zu Boden, sondern der Alte.
    Zwei Sekunden lang schien die Zeit eingefroren. Dann brach das Chaos aus. Das Kalb rannte aufgeschreckt in die Nacht hinaus. Der Alte rappelte sich vom Boden auf und hielt sich den blutenden Arm. Während er zu seinen Kameraden wankte, brüllte er ihnen Befehle zu. Die Männer am Feuer stürzten zu ihren Gewehren und warfen sich flach auf den Boden. Da niemand wusste, woher der Schuss gekommen war, feuerten sie blindlings in sämtliche Richtungen.
    Sie geraten in Panik, dachte der heimliche Beobachter zufrieden. Durchs Zielfernrohr seines vertrauten Erma-Scharfschützengewehrs verfolgte er jede Bewegung der Wilderer. Sie würden ihm nicht entkommen.
    Seine Hand glitt zum Rücken und zog eine gut sieben Zentimeter lange Norma Match 168 HP aus dem Patronengürtel. Ohne den Blick von den Wilderern zu nehmen, lud er seine Waffe nach, schnell und lautlos. Jetzt war das Magazin wieder voll.
    Erneut legte der Mann an. Zwei Schüsse ließen die Vorderreifen des Lastwagens platzen. Die Schnauze des MAN sackte ächzend nach unten. Die nächste Kugel traf den Tank. Der Dieseltreibstoff sprudelte in einem gebogenen Strahl auf den Sandboden. Damit war das Fahrzeug vorerst unbrauchbar.
    Die Wilderer kamen offenbar zu demselben Schluss. Sie fluchten lautstark und stießen Verwünschungen aus, nicht nur,weil sie ihren Monatslohn schwinden sahen, sondern weil ihnen allmählich aufging, dass sie nicht entkommen würden.
    Der Mann mit dem Scharfschützengewehr gestattete sich ein Lächeln. Natürlich konnte er nichts mehr für die getöteten Elefanten tun. Aber er würde dafür sorgen, dass ein klein wenig mehr Gerechtigkeit auf diesem Planeten einkehrte. Für dieses Ziel lebte er.

3.
    K obe Kulundu gähnte und streckte sich. Da er die ganze Nacht auf seinem Schreibtischstuhl verbracht hatte, fühlte er sich verspannt und ausgelaugt. Er konnte es kaum erwarten, endlich nach Hause zu fahren, gemeinsam mit seiner Frau zu frühstücken und sich dann ins Bett zu verkriechen.
    Er warf einen Blick zur Wanduhr, die über dem Eingang der kleinen, aber behaglich eingerichteten Hütte des Wildhüter-Basiscamps in San-ta-Wani hing. Kurz vor sieben. Noch über eine Stunde bis zum Schichtwechsel.
    Kobe Kulundu fuhr sich mit beiden Händen über das rabenschwarze Gesicht, dann durch sein Kraushaar, das an den
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