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Der Zug war pünktlich

Der Zug war pünktlich

Titel: Der Zug war pünktlich
Autoren: Heinrich Böll
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Stühle, eine Bank, ein halbzerschlissener Teppich, der nach zerfetztem Papier aussieht, und Willi raucht. Er ist vollkommen unrasiert und sucht in seinem Gepäck nach neuen Zigaretten.
    »Du warst entschieden der Teuerste, mein Lieber. Bei mir gings auch nicht viel billiger. Aber hier, unser blonder junger Freund, der hat fast nichts gekostet. He!« Er stößt den schlummernden Blonden in die Seite. »Hundertund-sechsundvierzig Mark.« Er lacht laut auf. »Der scheint tatsächlich bei dem Mädchen geschlafen zu haben, richtig geschlafen. Es blieben noch zweihundert Mark übrig, die hab ich seiner Kleinen unter die Zimmertür geschoben, als Trinkgeld, weißt du, weil sie ihn so billig glücklich gemacht hat. Hast du zufällig noch ‘ne Zigarette?«
    »Ja.«
    »Danke.«
    Wie unheimlich lange Olina noch dort im Kabinett der Alten zu verhandeln hat, um vier Uhr morgens. Das ist eine Zeit, in der die ganze Welt schläft. Sogar in den Zimmern der Mädchen ist es still, und unten in dem großen Warte-zimmer ist es ganz dunkel. Die Tür, aus der die Musik gekommen ist, ist dunkel, und man sieht und riecht diesen dunklen Raum. Nur draußen surrt der vornehme Motor.
    Olina ist hinter der rötlich gestrichenen Tür, und alles ist Wirklichkeit. Es muß Wirklichkeit sein …
    »Du glaubst also, daß dieser Generalshurenwagen uns mitnehmen wird?«
    141

    »Ja!«
    »Hm. Ein Maybach, ich höre es am Motor. Zünftiger Kasten. Hast du was dagegen, wenn ich schon rausgehe und mit dem Fahrer spreche? Es ist doch sicher ein Kapo.«
    Willi schultert sein Gepäck und öffnet die Tür, und da ist sie wirklich, die Nacht, die grauverschleierte Nacht und der matte Lichtkegel eines wartenden Wagens draußen vor dem Vorgarten. Kalt und unabwendbar wirklich wie alle die Kriegsnächte, voll kalter Drohung, voll von einem grauenhaften Spott; draußen in den schmutzigen Löchern
    … in den Kellern … in den vielen, vielen Städten, die sich ducken unter Angst … heraufbeschworen diese schauerli-chen Nächte, die morgens um vier ihre schrecklichste Macht erreicht haben, diese grauenvollen, unsagbar schrecklichen Kriegsnächte. Da ist eine vor der Tür … ei-ne Nacht voll Entsetzen, eine Nacht ohne Heimat, ohne auch nur den kleinsten, kleinsten warmen Winkel, in dem man sich verbergen könnte … diese Nächte, die von den sonoren Stimmen heraufbeschworen sind …
    Sie glaubt also wirklich, sie könnte mich retten. Andreas lächelt. Sie glaubt, man könne durchgleiten durch dieses feingesponnene Netz. Dieses Kind glaubt, daß es ein Entrinnen gibt … sie glaubt, daß sie Wege finden wird, die an Stryj vorbeiführen. Stryj. Dieses Wort hat in mir geruht seit meiner Geburt. Es hat tief, tief unten gelegen, uner-kannt und unerweckt, es war bei mir, als ich noch ein Kind war, und vielleicht hat mich ein dunkles Schauern durch-rieselt, damals in der Schule, als wir die Ausläufer der Karpaten durchnahmen und als ich die Worte Galizien und Lemberg und Stryj auf der Karte las, inmitten dieses gelblichweißen Fleckes. Und ich habe dieses Schauern vergessen. Vielleicht, oft und oft ist die Angel des Todes und des 142

    Rufes in mich hineingeworfen worden und niemals hat sie widergehakt dort unten, und nur dieses winzige, kleine Wort war aufgestellt und aufgespart für sie, und sie hat sich endgültig festgehakt …
    Stryj … dieses winzige, kleine, schreckliche, blutige Wort ist aufgestiegen und hat sich verbreitert zu einer dü-
    steren Wolke, die nun alles überschattet. Und sie glaubt, daß sie Wege finden wird, die an Stryj vorbeiführen …
    Dabei lockt mich ihr Versprechen nicht. Mich lockt nicht dieses kleine Dorf in den Karpaten, wo sie auf dem Stutzflügel spielen will. Mich lockt nicht diese scheinbare Sicherheit … es gibt nur Versprechungen und Verheißungen und einen dunklen unsicheren Horizont, über den wir uns hinausstürzen müssen, um die Sicherheit zu finden …
    Endlich öffnet sich die Tür, und Andreas ist erstaunt über die starre Blässe, die über Olinas Gesicht liegt. Sie hat einen Pelzmantel übergezogen, und eine reizende kleine Kappe sitzt auf ihrem schönen losen Haar, und keine Uhr ist mehr an ihrem Arm, denn er trägt seine Stiefel wieder. Die Rechnung ist beglichen. Die Alte lächelt so geheimnisvoll. Ihre Hände sind über dem dürren Leib gefaltet, und nachdem die Soldaten ihr Gepäck aufgenom-men haben und Andreas die Tür öffnet, sagt sie lächelnd ein einziges Wort: Stryj, sagt sie. Olina hört es nicht mehr,
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