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Der Zug war pünktlich

Der Zug war pünktlich

Titel: Der Zug war pünktlich
Autoren: Heinrich Böll
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dich nicht mehr leben«, und er lächelt jetzt …
    Im gleichen Augenblick, wo sie wieder ihre Gläser heben, um anzustoßen und zu trinken auf ihren Jahrgang oder ihr verpfuschtes Leben, im gleichen Augenblick beginnen ihre Hände heftig zu zittern; sie setzen wieder ab und blicken sich verstört um: es hat an die Tür geklopft …
    Andreas hält Olinas Arm zurück und steht langsam auf.
    Er geht zur Tür, er braucht nur drei Sekunden bis zur Tür.
    Das ist also das Ende, denkt er. Sie nehmen sie mir weg, sie wollen nicht, daß sie bei mir bleibt bis zum Morgen.
    Die Zeit lebt noch und die Welt dreht sich. Willi und der Blonde liegen irgendwo im Bett hier bei einem Mädchen, die Alte lauert unten auf Geld, ihr Sparbüchsenmund ist stets geöffnet, leise geöffnet. Was soll ich tun, wenn ich allein bin? Ich werde nicht einmal mehr beten können, nicht einmal auf den Knien liegen. Ich kann ohne sie nicht leben, ich liebe sie doch. Sie dürfen es nicht …
    »Ja«, fragt er leise.
    »Olina«, sagt die Stimme der Alten, »ich muß Olina sprechen.«
    Andreas blickt sich um, bleich und entsetzt. Ich will die fünf Stunden ja noch abgeben, wenn ich nur noch eine halbe Stunde bei ihr bleiben darf. Sie sollen sie haben.
    Aber ich möchte ja nur noch eine halbe Stunde bei ihr sein und sie sehen, nur sehen, vielleicht spielt sie auch noch was. Wenn es nur ist: Ich tanze mit dir in den Himmel 128

    hinein …
    Olina lächelt ihm zu, und er weiß bei diesem Lächeln, daß sie bei ihm bleiben wird, wie es auch kommen mag.
    Und doch hat er Angst, und er weiß jetzt, während Olina leise den Schlüssel herumdreht, daß er sich nicht von dieser Angst um sie trennen möchte. Daß er auch diese Angst liebt. »Laß mir wenigstens deine Hand«, flüstert er, als sie hinausgehen will, und sie läßt ihm ihre Hand, und er hört, daß sie draußen mit der Alten auf polnisch hastig und hit-zig zu flüstern beginnt. Die beiden Frauen kämpfen miteinander. Die Sparbüchse kämpft mit Olina. Er blickt ängstlich in ihre Augen, als sie zurückkommt, ohne die Tür zu schließen. Er läßt ihre Hand nicht los. Auch sie ist bleich geworden, und er sieht, daß die Zuversicht nicht mehr groß ist …
    »Der General ist da. Er bietet zweitausend. Er ist ganz toll. Er muß unten herumtoben. Hast du noch Geld? Wir müssen den Unterschied ersetzen, sonst …«
    »Ja«, sagt er; er krempelt hastig seine Taschen aus. Es sind noch Scheine drin, die er Willi beim Spiel abgewon-nen hat. Olina zwitschert irgend etwas auf polnisch durch die Tür. »Schnell«, flüstert sie. Sie zählt das Geld. »Dreihundert, nicht wahr? Ich habe ja nichts! Nichts!« sagt sie leidenschaftlich. »Doch, hier ist ein Ring, das sind fünf-hundert. Mehr ist er nicht wert. Achthundert.«
    »Der Mantel«, sagt Andreas, »hier.«
    Olina geht zur Tür mit den dreihundert, dem Ring und dem Mantel. Sie ist noch weniger zuversichtlich, als sie zurückkommt.
    »Den Mantel rechnet sie für vier, nur vier – nicht mehr.
    Und den Ring sechs, Gott sei Dank, sechs. Dreizehnhun-dert. Hast du nichts mehr? Schnell!« flüstert sie. »Wenn er 129

    ungeduldig wird und raufkommt, sind wir verloren.«
    »Das Soldbuch«, sagt er.
    »Ja, gib her. Ein echtes Soldbuch ist viel wert.«
    »Und die Uhr.«
    »Ja«, sie lacht nervös, »die Uhr. Du hast noch eine Uhr.
    Geht sie?«
    »Nein«, sagt er.
    Olina geht zur Tür mit dem Soldbuch und der Uhr. Wieder erregtes polnisches Geflüster. Andreas läuft ihr nach.
    »Hier ist noch ein Pullover«, ruft er, »eine Hand, ein Bein.
    Können Sie kein Menschenbein gebrauchen, ein wunderbares, prachtvolles Menschenbein … ein Bein von einem fast unschuldigen Menschen? Können Sie das nicht gebrauchen? Für den Rest. Bleibt noch ein Rest?« Er ruft das ganz sachlich, ohne Erregung, und hat immer noch Olinas Hand in der seinen.
    »Nein«, sagt draußen die Stimme der Alten. »Aber Ihre Stiefel. Ihre Stiefel würden genügen für den Rest.«
    Es ist mühsam, die Stiefel auszuziehen. Es ist sehr mühsam, wenn man sie vier Tage an den Beinen hat. Aber es gelingt ihm, ebenso wie es ihm gelungen ist, sie schnell anzuziehen, wenn das Gebrüll der Russen sich bedrohlich der Stellung näherte. Er zieht die Stiefel aus und gibt sie durch Olinas kleine Hand hinaus.
    Und die Tür ist wieder zu. Olina steht mit zitterndem Gesicht vor ihm. »Ich habe ja nichts«, weint sie, »meine Kleider gehören der Alten. Mein Leib auch, und meine Seele, meine Seele will sie nicht. Seelen
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