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Der Zug war pünktlich

Der Zug war pünktlich

Titel: Der Zug war pünktlich
Autoren: Heinrich Böll
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deine Tante, wie?«
    »Ja«, sagt er. Er schweigt eine Sekunde und blickt an ihren Augen vorbei. »Das war furchtbar. Weißt du, als er einmal schwer krank war, Leber und Nieren und Herz, alles war ja bei ihm vollkommen kaputt. Da lag er im Kran-kenhaus, und wir sind in einer Taxe hingefahren an einem Sonntagmorgen, weil er operiert werden sollte. Die Sonne schien ganz herrlich, und ich war furchtbar unglücklich.
    Und die Tante hat schrecklich geweint, und immer hat sie mir zugeflüstert: ich solle doch beten, daß alles gutgeht.
    Immer wieder hat sie es mir zugeflüstert, und ich hab es ihr versprechen müssen. Und ich habe es nicht getan. Ich war neun Jahre alt, und ich wußte schon, daß er gar nicht mein Vater war, und ich habe nicht gebetet, daß es gutgehen sollte. Ich konnte es einfach nicht. Ich habe nicht gebetet, daß es nicht gutgehen sollte. Nein, vor diesem Gedanken schreckte ich zurück. Aber gebetet, daß es gutgehen sollte, hab ich nicht. Unwillkürlich hab ich nur immer gedacht, wie schön es sein würde, wenn … ja, das hab ich gedacht. Das ganze Haus für uns und keine Szenen mehr und alles … und ich hatte doch meiner Tante versprochen, für ihn zu beten. Ich habe es nicht gekonnt. Ich habe nur immer, immer gedacht: mein Gott, warum heiraten sie solche Männer, warum heiraten sie solche Männer?«
    »Weil sie sie lieben«, fällt Olina plötzlich ein.
    »Ja«, sagt er erstaunt, »du weißt es. Sie hat ihn geliebt, hatte ihn geliebt und liebte ihn immer noch. Damals sah er ja anders aus, er war Referendar, und es gab ein Bild von ihm, wo er kurz nach dem Examen geknipst war. Im Stürmer, weißt du? Das waren solche Studentenmützen.
    Grauenhaft. Neunzehnhundertundsieben. Da sah er anders aus, aber nur äußerlich.«
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    »Wie?«
    »Nur äußerlich, weißt du. Ich fand, daß seine Augen dieselben waren. Nur sein Bauch war eben noch nicht so dick. Aber ich fand ihn auch auf diesem Jugendbild furchtbar. Ich hätte ihm angesehen, wie er mit fünfundvierzig aussehen würde, ich hätte ihn nicht geheiratet. Und sie liebte ihn immer noch, obwohl er ein Wrack war, sie quälte, sie sogar betrog. Sie liebte ihn ganz bedingungslos.
    Ich verstehe das nicht …«
    »Du verstehst das nicht?« Er blickt sie wieder erstaunt an. Sie hat sich aufgerichtet, die Beine herunterfallen lassen und sitzt nun nahe vor ihm …
    »Du verstehst das nicht?« fragt sie eifrig.
    »Nein«, sagt er erstaunt.
    »Dann kennst du die Liebe nicht. Ja«, sie blickt ihn an, und er fürchtet sich plötzlich vor diesem ernsten, leiden-schaftlichen, ganz veränderten Gesicht. »Ja«, sagt sie wieder. »Bedingungslos! Die Liebe ist doch immer bedingungslos. Hast du«, fragt sie leise, »hast du denn nie eine Frau geliebt?«
    Er schließt plötzlich die Augen. Wieder spürt er den Schmerz tief und schwer. Auch das, denkt er, auch das muß ich ihr erzählen. Kein Geheimnis darf bleiben zwischen ihr und mir, und ich hatte gehofft, ich würde es behalten dürfen, diese Erinnerung an ein unbekanntes Gesicht, diese Hoffnung, dieses Geschenk würde mein eigen bleiben, und ich würde es mitnehmen können. Er hat die Augen immer noch geschlossen, und es ist ganz still. Er zittert vor Pein. Nein, denkt er, laß es mich doch behalten.
    Das ist mein eigenstes Eigentum, und ich habe dreiundeinhalb Jahr nur davon gelebt … nur von dieser Zehntelsekunde auf dem Berge hinter Amiens. Warum mußte sie 124

    so tief und unfehlbar in mich hineinstoßen? Warum mußte sie die wohlbehütete Narbe aufstoßen mit einem Wort, das in mich eindringt wie eine Sonde, die Sonde eines unfehl-baren Arztes …
    Ja, denkt sie, das ist es also. Er liebt eine andere. Er zittert, er spreizt die Hände und schließt die Augen, und ich habe ihm weh getan. Denen, die man liebt, muß man am meisten weh tun, das ist das Gesetz der Liebe. Es schmerzt ihn so sehr, daß er nicht weinen kann. Es gibt einen Schmerz, so groß, daß die Tränen machtlos sind, denkt sie.
    Ach, warum bin ich nicht die andere, die er liebt. Warum kann ich nicht diese Seele und diesen Körper vertauschen.
    Nichts, nichts möchte ich behalten von mir, ich würde mich selbst ganz hingeben, wenn ich nur die … nur die Augen der anderen hätte. In dieser Nacht vor seinem To-de, in dieser letzten Nacht auch für mich, denn wenn er nicht mehr ist, wird mir alles gleichgültig sein … ach, könnte ich nur ihre Wimpern haben, ihre Wimpern vertauschen gegen mich selbst ganz …
    »Ja«, sagt er leise. Seine
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