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Der zeitlose Winter

Der zeitlose Winter

Titel: Der zeitlose Winter
Autoren: James A. Owen
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Bombardierungen und ununterbrochenes Granatfeuer hinterließen.
    Ein kultureller Glücksfall war es, dass – ob durch Zufall oder Absicht – die Hälfte der zehn berühmten Timurid-Minarette, die über einem großen Bazar im nördlichen Teil der Stadt aufragten, verschont blieben. Die fünfhundert Jahre alten Minarette, Symbole des verlorenen Reichtums der islamischen Kultur, standen im krassen Gegensatz zu dem Trümmerfeld darunter, und dort lag das eigentliche Ziel von Fischmehls Mutter. Der Bazar hatte unter anderem eine madrasah enthalten, eine muslimische Schule, und es hieß, sie habe mehr Bücher innerhalb ihrer Wände beherbergt, als alle anderen Schulen Afghanistans zusammen. Sie hoffte, inmitten des Schutts einige unbeschädigte Bücher zu finden, die sie ihrem Sohn mitnehmen konnte. Dazu sollte es nie kommen.
    Wie es die islamistische Übergangsregierung forderte, trug sie den traditionellen chadri, der sie von Kopf bis Fuß bedeckte. Doch als sie die Überreste einer Moschee in der Nähe der Minarette durchsuchte, hatte sie Schwierigkeiten, sich mit dem hinderlichen Gewand inmitten der Trümmer des Gebäudes zu bewegen und steckte es über ihren Unterarmen und in ihrem Nacken hoch.
    Die meisten Arbeiter auf der Baustelle waren mit ihrer Arbeit beschäftigt und schenkten ihr wenig Beachtung. Zwei von ihnen jedoch waren kompromisslose Schiiten, die sich auf der Suche nach Nahrung von ihrer Mudschaheddin-Gruppe entfernt hatten. Sie beobachteten die Frau einige Minuten lang und verschwanden. Bevor es dunkel wurde, kehrten sie mit zwanzig Männern zurück, und obwohl Fischmehls Mutter den chadri wieder angelegt hatte, war der Verstoß bereits begangen.
    Als die Gruppe sich auflöste, lag ihr Körper unter einer Vielzahl von Steinen begraben. Der braune Stoff des chadri war blutgetränkt.
     

     
    Es dauerte drei Tage, bis Fischmehls Vater herausfand, was seiner Frau zugestoßen war. Niemand erhob Einwände, als er sich entschloss, sie dort zu begraben, wo er sie gefunden hatte – im Schatten der Moschee-Ruine. Außer seinem jüngeren Sohn sah niemand, wie er am nächsten Tag auf einem Feld vor der Stadt auf dem Boden niederkniete, um das erste der fünf traditionellen täglichen Gebete der Moslems zu sprechen – sein erstes seit drei Jahrzehnten –, dabei eine russische Mine auslöste und seiner Frau folgte. Niemand nahm Notiz davon, als Fischmehl von Trauer getrieben über die Grenze nach Pakistan wanderte und nicht eher innehielt, bis er das Arabische Meer erreichte. Dort heuerte er auf dem erstbesten Schiff als Deckschrubber an und setzte nie wieder einen Fuß in sein Heimatland.
     

     
    In rund zehn Jahren, die Fischmehl als nautischer Hansdampf in allen Gassen durch die Welt gereist war, stellte er fest, dass ihm sein Beruf recht gut gefiel. Die Möglichkeit, unterschiedliche Teile der Erde zu bereisen, ohne jede Verpflichtung und Bindung, bedeutete nach der Unterdrückung in Afghanistan eine befreiende Abwechselung. Nur zweimal war er an einen tyrannischen Kapitän geraten, und beide Male gelang es ihm, mit heiler Haut und ohne bleibende Folgen davonzukommen. Den meisten Männern, für die er arbeitete, ging es für gewöhnlich nur darum, dass er seine Arbeit machte, ohne sich über sie oder über die langen Seereisen zu beschweren. Fischmehl wollte nur einen Job, der ihm Essen und Unterkunft bot, und ihm gerade genug einbrachte, damit er sich in den verschiedenen Häfen, in denen sie anlegten, Bücher kaufen konnte. Es war ein rundum fairer Handel.
    Als Fisch auf der La Lechera anheuerte, hatte er gerade eine Anstellung auf einem griechischen Schiff hinter sich gelassen, das auf Reisen im Mittelmeerraum beschränkt gewesen war - er wollte seinen Aktionsradius ausweiten. Er traf auf eine Gruppe von Seeleuten, deren Schiff in Ithäki zum Auftanken angelegt hatte. Der Kapitän versprach ihm anständige Bezahlung, lange Reisen und eine interessante Arbeit (zumindest so interessant, wie sie der Deckschrubber eines Schiffes erwarten kann). Fischmehl hatte die Aufträge in Europa und Afrika genossen, doch er hegte das heimliche Verlangen, den amerikanischen Kontinent zu sehen. Sein Wunsch blieb nicht lange unerfüllt. Fisch war erst drei Monate auf der Milchkanne, als Kapitän Pickering den Auftrag erhielt, eine Fracht von einem Hafen am Lake Michigan zu irgendeinem Ort in Spanien zu transportieren – sprich: zu schmuggeln –, und das Schiff trat die Reise nach Nord-Amerika und zu den Großen Seen
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