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Der Zeitenherrscher

Titel: Der Zeitenherrscher
Autoren: Stefan Gemmel
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gegen die Bilder, die Salomons Frage wohl in ihm heraufbeschworen hatte.
    Für einen Moment fühlte sich Simon dem Jungen sehr nahe. Das Messer am Hals war vergessen. Hier litt jemand unter der Vergangenheit, aus der er kam. Anscheinend war Caspar nicht nur der raue Kerl, der er vorgab zu sein.
    Sie alle ließen Caspar Zeit.
    Der Junge verharrte noch einen Moment in seiner Position, dann hob er den Kopf und blickte sich in der Runde um, als zögere er noch, seine Vergangenheit preiszugeben.
    „Ich wollte immer Schildknappe werden“, begann er schließlich. Aus seinem Gürtel zog er eines seiner Messer hervor und ließ es von einer Hand zur anderen wandern. „Doch dieser Traum war hoffnungslos. Ich habe sehr früh meine Eltern verloren und bin als Waise in einem Kloster groß geworden. Man weiß nur, dass sie einfache Bauersleute waren. Völlig verarmt. Mit acht Jahren verließ ich das Kloster und schlug mich mit Betteln und mit kleinen Arbeiten durch. Mal half ich auf Feldern, mal hütete ich Schafe, doch meist bettelte ich auf den Marktplätzen.“ Er rollte das Messer verspielt zwischen seinen ausgestreckten Händen. „So einer wie ich kann kein Schildknappe werden. Das ist unmöglich. Dann jedoch lernte ich Albert kennen. Er war gerade dabei, zu einem Knappen ausgebildet zuwerden. Abends, wenn wir uns trafen, zeigte er mir alles, was er erlernte. Von ihm habe ich auch diese vier Messer geschenkt bekommen. Albert brachte mir alles bei, was ein Knappe können muss. Und so arbeitete ich hart an mir. Tag und Nacht. Ich wollte besser sein als Albert. Ich wollte …“
    Caspar unterbrach sein Messerspiel kurz. Er warf das Messer in die Luft, wo es sich mehrfach drehte, und fing es wieder auf. „Glaubt mir: Ich war gut. Schon bald beherrschte ich die Messerkunst. Besser als Albert. Besser als jeder andere. Und ich war schnell. Doch mit jedem neuen Kampfgriff, mit jedem neuen Messerwurf, wuchs in mir die Wut. Ich wäre fähig gewesen, ein guter Schildknappe zu werden. Einer der besten vielleicht. Doch durch meine Abstammung war mir dieser Weg versperrt. Ich verlor alle Hoffnung. Und schließlich verlor ich auch noch Albert als Freund. Nach einem dummen Streit haben wir uns getrennt. Nichts war mir mehr wichtig. Ich wanderte ziellos umher und bettelte weiter.“
    Nun packte Caspar das Messer an der Klinge und hielt es so vor sein Gesicht, dass es wie ein kleines Kreuz wirkte. „Doch dann, ich war gerade dreizehn Jahre alt geworden, hörte ich in einer Stadt von einer großen Bewegung, die im Gange war. Kinder, Jugendliche und auch einige Erwachsene fanden sich zu einem riesigen Heer zusammen. Von einem Kreuzzug war die Rede. Einem Kreuzzug, der vor allem aus Mädchen und Jungen bestehen sollte. Sofort machte ich mich auf den Weg, um mich ihnen anzuschließen. Und es brauchte auch nicht lange, da hatte ich sie gefunden: Hunderte, vielleicht Tausende, befanden sich auf dem Weg nach Jerusalem, um die Stadt von den Ungläubigen zu befreien. Der Anführer des Kreuzzuges war selbst noch ein Kind: Nicolaus. Er gab uns allen Hoffnung. DieRitter und Heerscharen vergangener Kreuzzüge hatten versagt. Sie waren mit all ihren früheren Sünden in das Heilige Land eingereist und konnten somit Jerusalem nicht befreien. Nur wir Kinder und Jugendliche, die noch reinen Herzens waren, konnten imstande sein, den Heiligen Auftrag zu erfüllen.“
    Er nahm sein Messer wieder in die rechte Hand und hielt es mit der Spitze in Richtung des Feuers. „Wir alle folgten Nicolaus aus vollem Herzen. Er gab uns Hoffnung und Mut. Er führte uns über Tage und Wochen an Höfen und Klöstern vorbei, in denen wir zu Essen bekamen und wo wir in Scheunen schlafen konnten. Nicolaus kannte den Weg. Und er versprach uns, das Meer vor unseren Augen zu teilen, wenn wir die Küste erreicht hatten, sodass wir trockenen Fußes das Heilige Land betreten konnten. Dort wollte ich mich beweisen. Meine Kampfkunst, die ich mir angeeignet hatte, sollte mir helfen, die Stadt Jerusalem zu befreien. Als Held wollte ich nach Hause zurückkehren. Und bestimmt hätte man mich dann zum Ritter geschlagen. Ich hatte nur für diesen einen Zweck so hart an mir gearbeitet – um in diesem Kampf, in diesem Kreuzzug, zu bestehen.“
    Caspar ließ das Messer sinken, bis es mit der Spitze das Schiffsdeck berührte. „Dann gab es die ersten Toten. Nicolaus führte uns über die Berge, wo Hunger und Kälte uns zusetzten. Immer mehr Leichen sahen wir auf unserem Weg: Kinder,
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