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Der Zeitdieb

Der Zeitdieb

Titel: Der Zeitdieb
Autoren: Terry Pratchett
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dahinter? Ist dies die Wirklichkeit oder ein Trugbild? Oder gibt es bei dieser besonderen
    Lehrerin vielleicht kaum einen Unterschied zwischen dem einen und
    dem anderen?
    Das Innere des Schranks war ebenfalls anwesend. In einem dunklen, nach Papier riechenden Fach bewahrte Fräulein Susanne die Sterne auf.
    Es gab goldene und silberne. Ein goldener Stern war drei silberne wert.
    Auch davon hielt die Rektorin nichts. Sie meinte, so etwas fördere den Wettbewerbsgeist. Fräulein Susanne erwiderte, genau darum ginge es,
    und die Rektorin eilte fort, um einem Blick zu entgehen.
    Silberne Sterne gab es nicht oft, und goldene weniger als einmal in zwei Wochen, weshalb sie als sehr erstrebenswert galten. Fräulein Susanne wählte einen silbernen Stern. Es dauerte bestimmt nicht mehr lange, bis Vincent der Eifrige eine eigene Galaxie besaß. Gerechterweise musste man sagen, dass es Vincent völlig gleich war, was für einen Stern er bekam. Ihm kam es allein auf Quantität an. Insgeheim nannte ihn
    Fräulein Susanne auch »Der Junge, der vermutlich einmal von seiner
    zukünftigen Ehefrau umgebracht wird«.
    Sie trat wieder vor die Klasse und legte den silbernen Stern verlockend aufs Pult.
    »Und nun eine ganz besondere Frage«, sagte sie mit einem Hauch Bosheit.
    »Bedeutet es, dass es dort ›dann‹ ist, wenn es hier ›jetzt‹ ist?«
    Die Hand verharrte auf halbem Weg nach oben.
    »Uh…«, begann Vincent und zögerte. »Das ergibt keinen Sinn,
    Fräulein…«
    »Fragen müssen keinen Sinn ergeben, Vincent«, erwiderte Fräulein
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    Susanne. »Wohl aber Antworten.«
    Eine Art Seufzer kam von Penelope. Fräulein Susanne beobachtete
    überrascht die Veränderung in dem Gesicht, das den Vater des
    Mädchens eines Tages veranlassen würde, Leibwächter zu engagieren. Es verließ die Sphäre des glücklichen Tagtraums und wickelte sich um eine Antwort. Eine Alabasterhand kam nach oben.
    Die Klasse beobachtete das Geschehen erwartungsvoll.
    »Ja, Penelope?«
    »Ist es…«
    »Ja?«
    »Ist es immer überall jetzt, Fräulein?«
    »Ja. Richtig! Ausgezeichnet. Du bekommst einen silbernen Stern,
    Vincent. Und Penelope…«
    Fräulein Susanne kehrte zum Schrank mit dem Schreibmaterial zurück.
    Penelope hatte bereits einen Stern verdient, wenn sie lange genug von ihrer Wolke herunterkletterte, um eine Frage zu beantworten. Doch eine bedeutungsvolle philosophische Bemerkung musste mit einem goldenen
    Stern belohnt werden.
    »Ich möchte, dass ihr alle eure Notizhefte aufschlagt und das
    niederschreibt, was uns Penelope gerade mitgeteilt hat«, sagte Fräulein Susanne munter und nahm Platz.
    Und dann sah sie, wie das Tintenfass auf dem Pult wie Penelopes
    Hand in die Höhe kam. Es bestand aus Keramik und hatte genau die
    richtige Größe für ein rundes Loch im Holz. Es schwebte nach oben,
    und wenige Sekunden später stellte sich heraus, dass es auf dem Kopf des Rattentods ruhte.
    Er zwinkerte Fräulein Susanne mit einer blau glühenden Augenhöhle
    zu.
    Sie sah nicht einmal nach unten, als sie mit einer Hand das Tintenfass beiseite stieß und mit der anderen nach einem dicken Buch griff. Es
    knallte mit solcher Wucht auf das Loch im Holz, dass blauschwarze
    Tinte aufs Kopfsteinpflaster spritzte.
    Susanne hob die Klappe und spähte ins Innere des Pults.
    29

    Natürlich entdeckte sie dort nichts. Zumindest nichts Makabres…
    … abgesehen von einem Stück Schokolade, an dem eine Ratte
    geknabbert hatte und einem Zettel mit gotischer Schrift, die folgende Botschaft verkündete:
    KOMM ZU MIR.
    Die Unterschrift bestand aus einem vertrauten Alpha-und-Omega-
    Symbol sowie dem Wort
    GROSSVATER.
    Susanne griff nach dem Zettel, zerknüllte ihn und spürte dabei, dass sie vor Wut zitterte. Wie konnte er es wagen ? Und obendrein hatte er auch noch die Ratte geschickt!
    Sie warf die Papierkugel in den Abfallkorb. Nie verfehlte sie das Ziel.
    Manchmal bewegte sich der Korb, damit sie ihn traf.
    »Und jetzt sehen wir nach, wie spät es in Klatsch ist«, sagte sie zu den wartenden Kindern.
    Das Buch auf dem Pult hatte sich an einer bestimmten Stelle geöffnet.
    Und später würde die Zeit für eine Geschichte kommen. Und Fräulein
    Susanne würde sich zu spät fragen, warum ein Buch, das sie nie zuvor gesehen hatte, auf ihrem Pult lag.
    Und der Fleck aus blauschwarzer Tinte verblieb auf dem
    Kopfsteinpflaster des Platzes in Gennua, bis ihn der Abendregen
    wegwusch.

    Tick

    Wenn jemand in den abgelegenen, von Gongschlägen und
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