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Der Zeitdieb

Der Zeitdieb

Titel: Der Zeitdieb
Autoren: Terry Pratchett
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uhm«, klangen, die Aufmerksamkeit der Lehrerin zu wecken versuchte. Sie
    entschied sich für den Schüler dahinter.
    »Fast richtig«, sagte sie. »Ja, Samuel?«
    »Es ist Pappe, die wie eine Uhr aussieht «, sagte der Junge.
    »Richtig. Seht immer das, was wirklich da ist. Hiermit soll ich euch beibringen, wie man die Uhrzeit liest.« Fräulein Susanne schnaubte
    abfällig und warf die Pappuhr von sich.
    »Sollen wir es auf eine andere Weise versuchen?«, fragte sie und
    schnippte mit den Fingern.
    »Ja!«, riefen die Schüler wie aus einem Mund. Es folgte ein »Aah!«, als Wände, Boden und Decke verschwanden – Tische und Stühle schwebten
    hoch über der Stadt.
    Wenige Meter entfernt ragten die rissigen Steine des Uhrturms der
    Unsichtbaren Universität empor.
    Die Kinder wechselten aufgeregte Blicke. Der Umstand, dass sich ihre Füße mehr als hundert Meter über dem Boden befanden, beunruhigte sie überhaupt nicht. Seltsamerweise schienen sie auch nicht überrascht zu sein. Sie verhielten sich wie Kenner, die bereits andere interessante Dinge gesehen hatten. In Fräulein Susannes Klasse bekam man Gelegenheit, interessante Dinge zu sehen.
    »Nun, Melanie«, sagte Fräulein Susanne, als eine Taube auf ihrem Pult landete, »der große Zeiger steht auf der zwölf, und der riesige Zeiger hat fast die zehn erreicht. Also ist es…«
    Vincents Hand sauste nach oben. »Uh, Fräulein, uh, uhm…«
    »Fast zwölf Uhr«, brachte Melanie hervor.
    »Gut. Aber hier …«
    Schemen huschten vorbei. Die Tische und Stühle behielten ihre
    Anordnung bei, standen jetzt aber auf dem Kopfsteinpflaster eines
    Platzes in einer anderen Stadt. Der Rest des Klassenzimmers hatte an der Reise teilgenommen: die Schränke, der Naturlehrtisch, die Tafel. Wände, Decke und ursprünglicher Boden blieben verschwunden.
    Die Leute auf dem Platz schenkten den Neuankömmlingen keine
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    Beachtung, aber erstaunlicherweise wahrten sie alle einen gewissen
    Abstand. Es war warm; die Luft roch nach Meer und Sumpf.
    »Weiß jemand, wo wir sind?«, fragte Fräulein Susanne.
    »Uh, Fräulein, uh, uh, uhm…« Vincent streckte sich so weit nach oben, dass er riskierte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
    »Was ist mit dir, Penelope?«, fragte Fräulein Susanne.
    »Oh, Fräulein «, seufzte der enttäuschte Vincent.
    Penelope war wunderschön, sanftmütig und begriffsstutzig. Sie blickte über den Platz, auf dem reger Betrieb herrschte, sah zu den weißen, mit Markisen ausgestatteten Gebäuden. In ihrem exquisiten Gesicht zeigte sich so etwas wie Panik.
    »Letzte Woche kamen wir in Geographie hierher«, sagte Fräulein
    Susanne. »Eine von Sümpfen umgebene Stadt. An einem Fluss namens
    Vieux. Für ihre Küche bekannt. Viele Meeresfrüchte…?«
    Falten bildeten sich auf Penelopes hübscher Stirn. Die Taube auf
    Fräulein Susannes Pult flatterte davon und gesellte sich zu den anderen Tauben, die auf dem Kopfsteinpflaster nach Krumen suchten. Gurrend
    unterhielten sie sich auf Taubisch.
    Fräulein Susanne wusste, dass viel geschehen konnte, während
    Penelope einen Gedankengang zu Ende brachte. Sie zeigte auf eine Uhr über einem Geschäft auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes und fragte: »Kann mir jemand sagen, wie spät es hier in Gennua ist?«
    »Uh, Fräulein, Fräulein, uh…«
    Zur hörbaren Enttäuschung von Vincent hielt es ein Junge namens
    Gordon für möglich, dass es eventuell drei Uhr war.
    »Ja, das stimmt«, sagte Fräulein Susanne. »Kann mir jemand erklären, warum es in Gennua drei Uhr ist, in Ankh-Morpork aber zwölf Uhr?«
    Diesmal ließ es sich nicht vermeiden. Wäre Vincents Hand noch
    schneller nach oben gekommen, hätte sie sich aufgrund der Luftreibung entzündet. » Ja, Vincent?«
    »Uh Fräulein die Lichtgeschwindigkeit Fräulein beträgt sechshundert
    Meilen pro Stunde und derzeit steigt die Sonne in der Nähe von Gennua über den Rand und deshalb braucht zwölf Uhr drei Stunden bis zu uns
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    Fräulein!«
    Fräulein Susanne seufzte. »Ausgezeichnet, Vincent«, sagte sie und
    stand auf. Alle Blicke folgten ihr, als sie zum Schrank mit dem
    Schreibmaterial ging, der sie nach Gennua begleitet hatte. Ein
    aufmerksamer Beobachter hätte vielleicht dünne Linien in der Luft
    bemerkt, die Wände, Fenster und Türen andeuteten. Wäre der
    Beobachter außerdem auch noch intelligent gewesen, hätte er gefragt: Das Klassenzimmer ist also noch immer in Ankh-Morpork und
    gleichzeitig in Gennua? Steckt irgendein Trick
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