Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
sie. »
Wenn dich deine Präzeptoren sähen …
«
    Aber er schüttelte verzweifelt den Kopf, das Gesicht über dem Teppich, und antwortete:
    »
Das wäre mir völlig gleichgültig, mir sind alle diese Carducci und beredte Republik und menschlicher Fortschritt in der Zeit völlig gleichgültig, denn ich liebe dich!
«
    Sie streichelte ihm leicht mit der Hand das kurzgeschorene Haar am Hinterkopf.
    »
Kleiner Bourgeois!
« sagte sie. »
Hübscher Bourgeois mit der kleinen feuchten Stelle. Ist es wahr, daß du mich so sehr liebst?
«
    Und begeistert von ihrer Berührung, nun auf beiden Knien, den Kopf im Nacken und mit geschlossenen Augen fuhr er zu sprechen fort:
    »
Oh, die Liebe, weißt du … Der Körper, die Liebe, der Tod, diese drei sind nur eines. Denn der Körper ist die Krankheit und die Wollust, und er macht den Tod, ja, sie sind fleischlich alle beide, die Liebe und der Tod, und das ist ihr Schrecken und ihr großer Zauber! Aber der Tod, verstehst du, ist einerseits eine anrüchige, unanständige Angelegenheit, die vor Scham erröten macht; andrerseits ist er eine sehr feierliche und sehr majestätische Macht, – viel vornehmer als das Leben, das lacht und Geld verdient und sich den Bauch vollschlägt, viel verehrungswürdiger als der Fortschritt, der durch die Zeiten schwätzt, – denn er ist das Gewesene und die Vornehmheit und die Frömmigkeit und das Ewige und das Heilige, das uns den Hut abnehmen und auf {1097} den Zehenspitzen gehen läßt … Doch ebenso der Körper, auch er und die Liebe des Körpers sind eine unzüchtige und peinliche Angelegenheit, und der Körper errötet und erblaßt auf seiner Oberfläche vor Schreck und Scham vor sich selbst. Aber er ist auch eine große anbetungswürdige Herrlichkeit, staunenswertes Bild des organischen Lebens, heiliges Wunder der Form und der Schönheit, und die Liebe zu ihm, zum menschlichen Körper, ist gleichfalls eine höchst humanistische Neigung und eine erzieherischere Macht als alle Pädagogik der Welt! … Oh, bezaubernde organische Schönheit, die weder aus Ölfarbe noch aus Stein besteht, sondern aus lebender und zerstörbarer Materie, voll des febrilen Geheimnisses des Lebens und der Verwesung! Betrachte die wunderbare Symmetrie des menschlichen Gliederbaus, die Schultern und die Hüften und die blühenden Brustwarzen auf beiden Seiten, und die paarweise angeordneten Rippen, und den Nabel mitten in der Weichheit des Bauches, und das dunkle Geschlecht zwischen den Schenkeln! Betrachte, wie die Schulterblätter sich regen unter der seidenen Haut des Rückens, und das Rückgrat niedersteigt zur zwiefachen und kühlen Üppigkeit des Gesäßes, und die großen Äste der Venen und Nerven vom Rumpf zu den Verzweigungen in den Achselhöhlen laufen, und wie der Bau der Arme dem der Beine entspricht. Oh, die süßen Flächen des inneren Ellbogengelenks und der Kniekehlen mit ihrem Überfluß organischer Subtilitäten unter ihren Polstern des Fleisches! Welch ungeheures Fest, diese köstlichen Gegenden des menschlichen Körpers zu liebkosen! Ein Fest, um danach ohne Klage zu sterben! Ja, mein Gott, laß mich riechen den Duft der Haut deines Kniegelenks, unter der die kunstreiche Gelenkkapsel ihr schlüpfriges Öl absondert! Laß mich mit meinem Mund ehrfürchtig die Arteria femoralis berühren, die auf der Vorderseite deines Schenkels schlägt und die sich weiter unten teilt in die beiden Arterien des Schienbeins! Laß mich die Ausdünstung deiner Poren fühlen und deinen Lanugo-Flaum tasten, Menschenbild aus Wasser und Eiweiß, bestimmt für die Anatomie des Grabes, und laß mich sterben, meine Lippen auf den deinen!
«
    Er öffnete die Augen nicht, nachdem er gesprochen; er blieb wie er war, den Kopf im Nacken, die Hände mit dem Silberstiftchen von sich gestreckt, auf seinen Knien bebend und schwankend. Sie sagte:
    {1098} »
Du bist wirklich ein Galan, der seine Werbung auf gründliche Weise, wahrhaft deutsch, zu betreiben weiß.
«
    Und sie setzte ihm die Papiermütze auf.
    »
Adieu, mein Prinz Karneval! Sie werden heute abend eine schlechte Fieberlinie haben, das prophezeie ich Ihnen.
«
    Damit glitt sie vom Stuhl, glitt über den Teppich zur Tür, in deren Rahmen sie zögerte, halb rückwärts gewandt, einen ihrer nackten Arme erhoben, die Hand an der Türangel. Über die Schulter sagte sie leise:
    »
Vergessen Sie nicht, mir mein Crayon zurückzugeben.
«
    Und trat hinaus.

{1099} Editorische Nachbemerkung
    Die Textvorlage dieses Bandes ist
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher