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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg
Autoren: Thomas Mann
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Stille dauerte mehrere Minuten. Langsam neigten sich unter ihrem Druck die Köpfe des Paares am Pianino tiefer und tiefer, der des Mannheimers gegen die Klaviatur hinab, der Fräulein Engelharts auf das Notenheft. Endlich, beide gleichzeitig, wie nach geheimer Verständigung, standen sie vorsichtig auf, und leise, auf den Zehen, indem sie es künstlich vermieden, sich nach der anderen noch belebten Zimmerecke umzusehen, die Köpfe eingezogen und die Arme steif am Leibe, verschwanden der Mannheimer und die Lehrerin miteinander durch das Schreib- und Lesezimmer.
    »
Jedermann zieht sich zurück
«, sagte Frau Chauchat. »
Das waren die letzten; es wird spät. Nun also, das Karnevalsfest ist zu Ende.
« Und sie hob die Arme, um mit beiden Händen die Papiermütze von ihrem rötlichen Haar zu nehmen, dessen Zopf als Kranz um den Kopf geschlungen war. »
Sie kennen die Konsequenzen, mein Herr.
«
    Aber Hans Castorp verneinte mit geschlossenen Augen, ohne im übrigen seine Stellung zu verändern. Er antwortete:
    »
Nie, Clawdia. Nie werde ich ›Sie‹ zu dir sagen, nie im Leben und nie im Tod,
wenn man so sagen kann, – man sollte es können.
Diese Form, jemanden anzureden, die dem gebildeten Abendlande und der humanistischen Zivilisation angehört, erscheint mir sehr bürgerlich und pedantisch. Wozu überhaupt Form? Form ist die Pedanterie selbst! All das, was ihr hinsichtlich der Moral festgestellt habt, du und dein leidender Landsmann, – meinst du ernsthaft, daß es mich überrascht? Für welch einen Dummkopf hältst du mich? Sag doch, was denkst du von mir?
«
    {1095} »
Das ist ein Thema, das nicht viel zu denken gibt. Du bist ein konvenabler kleiner Bursche, von guter Familie, von appetitlichem Benehmen, ein gelehriger Schüler seiner Präzeptoren, der demnächst ins Flachland zurückkehren wird, um gänzlich zu vergessen, daß er hier jemals im Traum geredet hat, und um durch seine anständige Arbeit auf der Werft dazu beizutragen, sein Land groß und mächtig zu machen. Das ist deine Innenphotographie, angefertigt ohne Apparat. Du findest sie genau, hoffe ich?
«
    »
Sie entbehrt einiger Details, die Behrens dort gefunden hat.
«
    »
Ah, die Ärzte finden immer, das verstehen sie …
«
    »
Du sprichst wie Herr Settembrini. Und mein Fieber? Woher kommt das?
«
    »
Lassen wir das, das ist ein Zwischenfall ohne Folge, der schnell vorübergehen wird.
«
    »
Nein, Clawdia, du weißt gut, daß das, was du da sagst, nicht wahr ist, und du sagst es ohne Überzeugung, dessen bin ich sicher. Das Fieber meines Körpers und das Schlagen meines erschöpften Herzens und das Zittern meiner Glieder, das ist das Gegenteil eines Zwischenfalls, denn es ist nichts anderes –«
und sein bleiches Gesicht mit den zuckenden Lippen beugte sich tiefer zu dem ihren –
»nichts anderes als meine Liebe zu dir, ja, diese Liebe, die mich in dem Augenblick gepackt hat, als meine Augen dich sahen oder vielmehr das, was ich wiedererkannt habe, als ich dich wiedererkannt habe, – und es war offensichtlich sie, die mich an diesen Ort geführt hat …
«
    »
Welch ein Wahnsinn!
«
    »
Oh, die Liebe ist nichts, wenn sie nicht Wahnsinn ist, etwas Unvernünftiges, Verbotenes und ein Abenteuer im Bösen. Andernfalls ist sie eine vergnügliche Banalität, gut um darauf friedliche kleine Lieder im Flachland zu machen. Aber daß ich dich wiedererkannt habe und daß ich meine Liebe für dich wiedererkannt habe, – ja, das ist wahr, ich habe dich schon gekannt, vor alters, dich und deine zauberhaft schrägen Augen und deinen Mund und deine Stimme, mit der du sprichst, – schon einmal, als ich Schüler war, habe ich dich um dein Crayon gebeten, um endlich deine gesellschaftliche Bekanntschaft zu machen, denn ich habe dich über alle Vernunft geliebt, und von dort zweifellos, von meiner alten Liebe zu dir, stammen die Narben, die {1096} Behrens in meinem Körper gefunden hat und die zeigen, daß ich auch früher krank gewesen bin …
«
    Seine Zähne schlugen aufeinander. Er hatte den einen Fuß unter seinem knisternden Stuhl hervorgezogen, während er phantasierte, und indem er ihn vorschob, diesen Fuß, berührte er mit dem anderen Knie schon den Boden, so daß er denn also neben ihr kniete, gebeugten Kopfes und am ganzen Körper zitternd. »
Ich liebe dich
«, lallte er, »
ich habe dich schon immer geliebt, denn du bist das Du meines Lebens, mein Traum, mein Schicksal, mein Verlangen, meine ewige Sehnsucht …
«
    »
Aber, aber!
« sagte
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