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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
Autoren: Laurence Cossé
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sich ein »Ach, du bist noch da?« nicht verkneifen konnte, antwortete er mit extrem unecht klingender Lässigkeit, er wolle an diesem Tag überhaupt nicht raus – und das, obwohl es fast trocken war und obwohl sie Armel, seit sie ihn kannte, immer hatte sagen hören, er könne morgens nicht mit der Arbeit anfangen, bevor er frische Luft geschnappt habe. Da gab sie ihre Zurückhaltung auf und fragte ihn, was ihn von dieser Überzeugung und einer dermaßen festen Gewohnheit abgebracht habe. Und er reagierte völlig ungewohnt. Denn er wich der Frage aus. »Müde«, sagte er unwirsch. Sie sah ihn an. Er sah sie an. Er ist wütend, dachte Maïté.
    Ein völliger Irrtum, wie sie bald erfahren würde. In Wahrheit habe er Angst gehabt, erklärte sie. Zum ersten Mal in seinem Leben erlebte er die Angst.

4
    N éon tauchte nach vierzig Stunden wieder auf, zu einem Zeitpunkt, zu dem er normalerweise eben nicht in Les Crêts gewesen wäre. Am Mittwoch, dem 9. November, sah man zur Siesta-Zeit unterhalb des Dorfs einen Zombie aus dem Wald brechen und sich bis zum Alpette schleppen. »Man« ist hier nicht im unpersönlichen oder kollektiven Sinn zu verstehen, das heutzutage häufig durch ein »du« ersetzt wird – »das kostet dich glatt ’nen Fuffi« –, sondern in einem persönlichen, weniger gebräuchlichen, aber viel eleganteren – »man versetzte dem Lumpen einen Stockhieb und rückte sich die Krone zurecht«. »Man« war nämlich nur einer, genauer gesagt eine, eine einzige und junge Frau, die schon sehr erschöpft war – aber unendlich viel weniger als der Zombie: die kleine Madame Benarbi, »die Haselnuss«, wie sie in Les Crêts genannt wurde. Weil ihre sämtlichen drei Kinder gerade schliefen und es nicht regnete, nutzte sie die Gelegenheit und hängte Wäsche auf. Etwas Schüchterneres als Aïcha Benarbi wäre im Dorf und wahrscheinlich im ganzen Kanton schwerlich aufzutreiben gewesen. In ihrem tiefsten Innern war Aïcha verzweifelt, als ihr junger Ehemann ihr am Tag nach der Hochzeit mit einem strahlenden Lächeln befohlen hatte, dem Schleier auf immer zu entsagen. »Ich bin ein moderner Ehemann«, hatte er gesagt. Da gab es keine Widerworte.
    Als sie jedoch über die Wäscheleine hinweg sah, wie das Gespenst in Zickzacklinien über die Straße zur Kneipe stolperte, neben der aus einem halben Baumstamm bestehenden Bank am Eingang stehen blieb, sich erst zur einen, dann zur anderen Seite neigte, hin und her schwankend zielte und sie dennoch fast verfehlt hätte, als es darauf zusammenbrach, ließ Aïcha ihren Korb mit feuchter Bettwäsche im Stich, zog sich den Rollkragen ihres Pullis wenigstens übers Kinn, besann sich auf ihr bestes Französisch, lief zu dem Gespenst und fragte: »Geht es Ihnen nicht gut?«
    Nein, es ging ihm nicht gut. Néon sagte es nicht. Es verstand sich von selbst. Er klapperte mit den Zähnen. Er war kalkweiß unter seinem rötlichen Zweitagebart. Sein Haar klebte feucht am Schädel, seine Kleider waren voller Erde. Aïcha berührte ihn am Handgelenk. Es glühte vor Fieber.
    »Das Fieber«, sollte später Doktor Clair – der von der Insel Réunion im Indischen Ozean stammte und in Moureix praktizierte – sagen, »das Fieber hat ihn gerettet. Im Augenblick ist es zwar nicht sehr kalt, aber trotzdem.«
    Man brachte Néon nach Hause – »man« bestand in diesem Fall aus dem Kneipier Alfred Deneriaz, den Aïcha mit kräftigem Klopfen gegen den Fensterladen alarmiert hatte, dessen Schwiegervater Marcellin Prot und dem Holzfäller Steevie Perrault. Man fand die Tür des Chalets offen vor, und drinnen ein wüstes Durcheinander – »man« ist jetzt: Alfreds Frau Élisa, die kleine Aïcha, Madame Huon, deren Lebensmittelladen neben dem Café-Restaurant lag, und Madame Antonioz, die das Grüppchen durchs Fenster gesehen und sich ihm angeschlossen hatte. Man – Madame Huon – rief Doktor Clair an, der eine halbe Stunde später da war. Eine halbe Stunde: Welch glückliche Fügung für die Damen, die unter dem Vorwand, Kleidung zu suchen und Kaffee zu kochen, das ganze Haus inspizierten, jedenfalls die älteren unter ihnen, denn die kleine Benarbi war nach einem kurzen Blick in die Junggesellenwirtschaft wieder zu ihrer Arbeit zurückgekehrt: So modern man – ihr Mann – auch sein mochte, Marokkaner war man trotzdem. Marcellin, der an dem Bett geblieben war, auf dem Néon nun lag – die übrigen Männer waren ebenfalls wieder an die Arbeit gegangen –, hörte ihn im Delirium mehrmals Minna
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