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Der wunderbare Massenselbstmord

Titel: Der wunderbare Massenselbstmord
Autoren: Arto Paasilinna
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ben mit unregelmäßiger Handschrift, ohne Rücksicht auf die Grammatik, getrieben von einer manischen Kraft, und sie richteten an die Empfänger einen Hilferuf: Stimmte es, dass man auch in einer Notsituation nicht allein war? Trotz allem? Würde von unbekannter Seite Hilfe kommen?
    Für die Schreibenden war eine Welt zusammengebro­ chen. Ihre Nerven waren zerrüttet, manche waren so völlig am Ende, dass sogar dem abgehärteten Oberst Tränen in die Augen traten. Die Menschen hatten sich an die Rettungsbotschaft der Zeitungsannonce geklam­ mert wie Ertrinkende an einen Strohhalm.
    Es erschien unmöglich, jedem individuell zu antwor­ ten. Schon allein das Öffnen und Lesen aller Briefe würde die beiden Männer überfordern.
    Als sie etwa hundert Briefe flüchtig gelesen hatten, waren Onni Rellonen und Oberst Kemppainen so er­ schöpft, dass sie aufgaben. Sie gingen baden.
    »Wenn wir uns jetzt im See ertränken, bleiben mehr als sechshundert Menschen sich selbst überlassen. Sie bringen sich vielleicht um. Moralisch wären wir schuld an ihrem Tod«, philosophierte Rellonen, als sie auf dem Steg saßen.
    »Ja… Selbstmord kommt für uns jetzt nicht infrage, da wir uns ein ganzes Bataillon armer Teufel aufgehalst haben«, bestätigte der Oberst.
    »Ein richtiges Selbstmordbataillon«, ergänzte Rello­ nen.
    Am Morgen fuhren die Männer ins nahe gelegene Sysmä und kauften im dortigen Papiergeschäft ein: sechs Mappen, einen Locher, einen Tacker, einen Brief­ öffner, eine kleine elektrische Schreibmaschine, sechs­ hundertzwölf Briefumschläge und zwei Packen Schreib­ maschinenpapier. Auf der Post bestellten sie sechshun­ dertzwölf Briefmarken. Bei der Gelegenheit schickten sie dem Volksschullehrer sein Buch über die Selbstmorde von Hailuoto zurück mit einem beigefügten Brief, in dem sie ihn aufforderten, den Selbstmordgedanken fallen zu lassen. Sie empfahlen ihm, sich mit seinem Manuskript an die Gesellschaft für seelische Gesundheit oder eine andere entsprechende Einrichtung zu wenden, in der man den wissenschaftlichen Wert des Werkes vielleicht eher erkennen würde.
    Rellonen erledigte noch Einkäufe im Lebensmittella­ den, der Oberst suchte Alko, die finnische Alkoholhand­ lung, auf. Dann kehrten sie zur Hütte am See zurück.
    Jetzt war keine Zeit, zu saunieren oder zu angeln. Rel­ lonen machte sich mit dem neu erworbenen Gerät ans Öffnen der Briefe, Kemppainen fungierte als Protokol­ lant, er notierte die persönlichen Angaben, Namen und Adressen der Absender und gab jedem eine Registrier­ nummer. Die Arbeit dauerte zwei Tage. Als alles getan war, konstatierten die Männer, dass sie sich nun gründ­ licher mit den Briefen befassen müssten. Sie hatten sie geordnet, aber das war erst der Anfang.
    Die beiden hatten begriffen, dass die Bearbeitung der Briefe eilte, und zwar außerordentlich. In ihren Händen lag das Leben von mehr als sechshundert Finnen. Auf die Briefe musste schnell reagiert werden, doch zu zweit würde es zu lange dauern.
    »Wir brauchen einen Sekretär«, seufzte Onni Rellonen spätabends, als alle Briefe geöffnet und registriert wa­ ren.
    »Wer sollte gerade uns mitten im Sommer seinen Se­ kretär zur Verfügung stellen«, knurrte Oberst Kemppai­ nen.
    Rellonen kam auf die Idee, dass sich unter den Selbstmordkandidaten vielleicht jemand mit entspre­ chenden Fähigkeiten finden ließe. Oder zumindest je­ mand, der bei der Bewältigung der Arbeit behilflich sein könnte. Die Männer beschlossen, die Absender der Briefe unter diesem Aspekt zu prüfen. Es schien ihnen logisch, sich dabei auf die nähere Umgebung zu konzen­ trieren. Sie nahmen sich also den Stapel mit den Selbstmordkandidaten aus Häme vor. Rellonen las fünfzehn Schreiben, der Oberst zwanzig. Ein paar Bau­ ern aus Hauho, Sysmä und Umgebung hatten sich mit Selbstmordabsichten gemeldet. Landwirte boten jedoch nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für die Arbeit als Sekretär. Es gab bessere Kandidaten: drei Grundschullehrerinnen, eine alte Jungfer aus der Ge­ gend um Forssa und dann der Volltreffer: In Humppila gab es eine richtig ausgebildete Kraft, Kukka-Maaria Ovaskainen, pensionierte Exportsekretärin von Kemira, und in Toijala die stellvertretende Direktorin der dorti­ gen Volkshochschule, Helena Puusaari, 35, deren Un­ terrichtsfach Handelskorrespondenz war. Beide Frauen waren von ihrem Leben enttäuscht und dachten ernst-haft an Selbstmord. Außerdem hatten sie vertrauensvoll ihre
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