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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast
Autoren: Eva Stachniak
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imposante Marmorstatue ersetzen lassen: Jetzt stand da, auf eine Muskete gestützt, ein Soldat, zu seinen Füßen Schädel und Knochen. In seinen nichtssagend regelmäßigen Gesichtszügen war keine Ähnlichkeit mit denen Igors zu entdecken.
    »Darenka«, rief ich.
    Sie blickte auf, ihr Gesicht war tränennass.
    Ich machte meiner Erleichterung in sanften Vorwürfen Luft. Wir hatten solche Angst ausgestanden. Überall hatten wir nach ihr gesucht. Mascha war außer sich vor Sorge.
    »Sei mir nicht böse, Maman«, sagte Darja.
    »Ich bin dir nicht böse.«
    Ich nahm sie in den Arm und streichelte ihr schimmerndes schwarzes Haar. Keine höfische Ehre der Welt rechtfertigte es, dass mein Kind so leiden musste, dachte ich.
    »Du möchtest nicht bei dem Ballett tanzen?«, fragte ich. »Das musst du nicht, kison'ka . Morgen gehen wir zur Kaiserin und sagen ihr, dass jemand anders die Rolle übernehmen soll.«
    Aber Darja ließ sich nicht beruhigen, sie weinte nur noch mehr.
    »Was ist denn, Schätzchen?«, fragte ich.
    Bitte, sag es mir , dachte ich. Bitte schließ mich nicht aus. Ich drückte sie an mich, spürte ihre Brust, die noch vor kurzem so knochig und schmal gewesen war, und sich jetzt zu runden begann.
    »Es ist alles meine Schuld«, schluchzte sie.
     
    Nach und nach lockte ich es aus ihr heraus.
    Es hatte mit einem leichten Unbehagen angefangen, erzählte Darja. Katharina hatte ihr Blicke zugeworfen, die sich irgendwie unangenehm anfühlten, sie wusste nicht wieso. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass Paul gesagt hatte, wenn er einmal Kaiser sei, werde er Darja zur Königin von Polen machen? Sie hatte zu Katharina gesagt, der Großfürst rede einfach manchmal albernes Zeug, das er gar nicht ernst meine. Und die Kaiserin hatte geantwortet, das wisse sie schon und sie sei auch gar nicht ärgerlich deswegen.
    Die Kaiserin kam immer öfter zu den Ballettproben, schließlich jeden Tag. Sie klatschte Beifall und lobte Darja und Paul, und meine Tochter war ganz selig. Aber eines Tages rief Katharina nach der Probe Darja zu sich und stellte ihr Fragen. Ob ihr das Stück
gefiel? War Herr Hilverding wirklich mit den Fortschritten des Großfürsten zufrieden, oder sagte er das nur der Kaiserin zuliebe? Würde Paul seine Sache gut machen bei der Aufführung?
    O ja, versicherte Darja, Herr Hilverding fand, dass der Großfürst ganz ausgezeichnet tanzte. Und sie gestand, dass ihr zwar die Geschichte von der Liebe der Nymphe Galatea und des Schäfers Acis gut gefiel, nicht aber der Schluss.
    »Was gefällt dir daran nicht?«, fragte Katharina.
    »Na ja, dass der Schäfer sterben muss.«
    Die Kaiserin nickte und sagte, Darja habe ein gutes Herz. Aber da wurde der Großfürst ungeduldig und rief nach meiner Tochter, und sie musste mit ihm gehen.
    Auch an den folgenden Tagen fing die Kaiserin nach der Probe jedes Mal ein Gespräch mit Darja an und stellte sonderbare Fragen. Hatte Darja ein eigenes Bett, oder schlief sie zusammen mit mir in meinem? Wachte sie manchmal in der Nacht auf? Wie lange durfte sie abends aufbleiben? Und schließlich fragte Katharina: »Kommt manchmal nachts noch Besuch zu deiner Maman?«
    Meine Tochter sagte, wenn es so wäre, würde sie nichts davon mitbekommen; sie gehe früh zu Bett und schlafe tief und fest. Sie wache auch frühmorgens, wenn ich aufstünde, nicht auf.
    »Es ist noch nie vorgekommen, dass dich irgendwelche Geräusche nachts aufgeweckt haben?«, fragte die Kaiserin. »Kein einziges Mal?«
    Und da fiel Darja das Sorbet wieder ein, das sie nie bekommen hatte, und sie erzählte Katharina, dass einmal mitten in der Nacht Onkel Grigori gekommen war. Das Sorbet, das er mitgebracht hatte, war geschmolzen, darum hatte Mascha es weggeschüttet. Und am nächsten Tag hatte Darja lauter wunderschöne Geschenke von Onkel Grigori bekommen.
    Die Kaiserin stellte dann noch viele weitere Fragen. Wie hatte Graf Orlow ausgesehen, was hatte er angehabt? Was hatte er gesagt? Was für Geschenke hatte er geschickt? Und warum hatte sie, die Kaiserin, nie etwas davon gehört?
    Weil ihre Maman nicht wollte, dass es jemand erfährt, antwortete Darja, der erst jetzt wieder einfiel, dass ich sie gebeten hatte, mit niemandem darüber zu sprechen.
    Offenbar schaute Darja recht schuldbewusst und unglücklich drein, denn die Kaiserin tröstete sie und meinte, das habe weiter nichts zu bedeuten, Darja brauche sich keine Sorgen deswegen zu machen. Dann schenkte sie ihr den goldenen Anhänger mit den blauen Steinen und
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