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Der Willy ist weg

Der Willy ist weg

Titel: Der Willy ist weg
Autoren: Jörg Juretzka
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homosexuell. Er mag einfach solche Musik. Er mag, um es kurz zu machen, jegliche Musik. Einzige Voraussetzung ist, glaube ich manchmal, dass sie mir wider die Natur geht.
    Ich stieg aus. Ein paar der hell erleuchteten Fensterscheiben hatte man durch Pappe ersetzt. Das war neu. Eine Kassette der Haustür war recht grob mit einem Stück Schaltafel vernagelt. Das war auch neu. Und an der hellgrauen Muschelkalkfassade prangte rot der offenbar mit einiger Hast gesprühte Einzeiler
    IHR SEIT ALLE TOD
    Nicht ohne mystische Tiefe, wie ich fand. Was war denn bloß los gewesen? Ich sah mich um. Auf dem zertrampelten Rasen lagen hier und da Pflastersteine herum, Holzknüppel, ein Jackenärmel. Eine Ansammlung von Menschen schien, dem Augenschein nach, den Versuch unternommen zu haben, ohne Einladung in das Domizil der Stormfuckers, MC, vorzudringen. Da wir bei meiner Abreise nach Amsterdam noch in einem mühsam erreichten, relativen Frieden mit allen rivalisierenden Gruppierungen gestanden hatten, mussten es die Jungs irgendwie geschafft haben, sich im Verlauf der letzten Woche eine ganze Bande frischer, nagelneuer Feinde zu schaffen.
    Das überraschte mich nicht. Ein Großteil der Stormfuckers lebte in erster Linie von ihrer Erscheinung. Sie erschienen bei Rockkonzerten, sie erschienen vor Discotüren, sie erschienen zu Hause bei Leuten, die meinten, Spiel-, Drogen- oder sonstige Schulden seien nichts, das man wirklich ernst nehmen müsse. Meist genügte ihre Ausstrahlung, um Friedfertigkeit und Vernunft zu verbreiten. Große, breite, haarige, ledergewandete, an delikaten und weniger delikaten Stellen tätowierte und gepiercte, einander zu unverbrüchlicher Loyalität verschworene Männer wie sie treten gerne mit einer Art kollektivem Selbstbewusstsein auf, das geeignet ist, Nachdenklichkeit auch in den hitzigsten Köpfen zu inspirieren. Und doch gibt es immer wieder welche, bei denen die Nachdenklichkeit in einen, wie soll ich sagen, nicht selten alkoholbefeuerten, gewalttätigen Groll umschlägt. Solche Leute kommen oft erst im Krankenhaus wieder zu sich und sind in der folgenden Zeit recht häufig der Ansicht, uns irgendetwas zu schulden.
    Ich sage >uns<, denn ich gehörte zweifelsfrei dazu, auch wenn ich mein eigenes Gewerbe hatte und mich aus ihren Kleinkriegen mit der Konkurrenz und den Kloppereien mit allen möglichen Optimisten so gut es ging heraushielt.
    So gut es ging, echote ich bitter und humpelte die Treppen zum Eingang hoch, aus Kloppereien heraushielt.
    Ich schloss die Haustüre auf, ließ mich ein, und Phil Collins' Säugling-mit-nassen-Windeln-Gegreine waberte mir entgegen wie Klang gewordener Hundeatem.
    So, dachte ich, jetzt brechen wir erst mal Scuzzi beide Arme, und dann sagen wir Guten Abend allerseits.
    Gäste, so weit das Auge reichte, doch kaum jemand beachtete mich. Es war spät geworden, und viele der Anwesenden waren mittlerweile in einem Zustand, in dem sich die Wahrnehmung nach innen kehrt. Wenn sie nicht gänzlich erlischt.
    Ende der 60er muss es gewesen sein, als jemand die oft wiederholte Behauptung aufgestellt hat, Drogen erweiterten das Bewusstsein, und wir haben seitdem immer noch nicht wieder aufgehört, darüber zu lachen.
    Ein mächtiges Feuer, durchzogen von glühenden Sprungfedern, prasselte im Kamin der Empfangshalle. In mehr als nur einer Ecke hatte sich die Wahrnehmung des einen oder anderen Partygastes nach außen gekehrt, begleitet vom jeweiligen Mageninhalt. Phil Collins' Straßenbahn-in-enger-Kurve-Tonlage fing an, eine Art von Elektrolyse in meinen Zahnfüllungen auszulösen. Entschlossen arbeitete ich mich durch das allgemeine Getorkel bis zum Plattenspieler vor und lehnte mich mit der Handfläche auf den Tonarm, bis die Nadel eine völlig neue Spur quer durch das Vinyl gezogen hatte. Auf der improvisierten Bühne am Kopfende der Halle hob der Drummer der >New<, Mülheims uneinholbar ältester Rockband, den Kopf von seiner Trommel und begann, einen Takt zu schlagen. Mitglieder seiner Combo beendeten unter saugenden und schmatzenden Geräuschen ihre rekreativen Tätigkeiten und eilten aus allen Ecken des Hauses zusammen für eine weitere Sitzung. Wir hatten einen Vertrag mit ihnen, in den ich eigenhändig eine Passage eingefügt hatte, die es ihnen bei Strafe verbot, irgendeinen von einem gewissen Pierfrancesco Scuzzi geäußerten Musikwunsch zu erfüllen, also konnte ich mich einigermaßen beruhigt in die Küche aufmachen. Mein Magen knurrte, und meine Batterien konnten einen
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