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Der Willy ist weg

Der Willy ist weg

Titel: Der Willy ist weg
Autoren: Jörg Juretzka
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fehlte mir noch in meiner Sammlung an Blessuren. Ich sagte: »Ey, Kinder, ruhig, ja? Ich habe nur gefr .« Der Schwengel pfiff dicht über meinem Kopf durch die Luft. Zwei Fingerbreit tiefer, und meine Sammlung wäre komplett gewesen.
    »Dann nicht«, sagte ich und machte kehrt. »Und vielen Dank auch«, rief ich noch, ehe ich den Schlüssel umdrehte. Die beiden nahmen keine weitere Notiz von mir.
    Der Heilige Abend, kein Scheiß, das hatten wir heute, und was für ein Heiliger Scheiß-Abend war es bis jetzt für mich gewesen! Dabei war ich noch nicht über die Grenze, noch lange nicht wieder zu Hause. Ich war so richtig gespannt, was für weitere freudige Überraschungen mich auf meinem Weg erwarten mochten.
    Noch 12 Kilometer bis zur Bondsrepubliek Duitsland, verriet mir ein Schild, und der Zeiger meiner Tankuhr lag wie tot auf der Seite und rührte sich schon länger nicht mehr.
     
    Mülheim a. d. Ruhr, 18.12.1984
    Liebe Dagmar,
    vielen Dank für Ihre hübsche Autogrammkarte. Es ist jetzt die 15. in meiner Sammlung, und ich habe sie gleich zu den anderen an die Wand meines Zimmers gepinnt.
    Und doch bin ich etwas enttäuscht. Ich hatte sehr gehofft, Sie würden meiner Einladung zu unserer Weihnachtsfeier zustimmen. Wir konnten >The New< verpflichten, die sich extra Ihnen zu Ehren eine kleine Überraschung ausgedacht haben (darf ich nicht verraten), das Büfett wird vom Restaurant >Waldschrat< geliefert, das heißt, dieses Jahr wird es schmecken (letztes Jahr haben wir selber gekocht, aber es hätte Ihnen nicht gefallen. Irgendjemand hatte einen Gummihandschuh im Backofen vergessen, was der Gans einen strengen Beigeschmack gegeben hätte, wenn uns nicht von vornherein ein Missverständnis mit dem Rezept unterlaufen wäre. So aber hatten wir den Vogel mit Maiskörnern gefüllt, wie im Rezept, bloß der falschen Sorte, irgendwie, und man könnte heute noch Reste des Tieres an der Decke und den Wänden der Küche bewundern, wenn ich mich nicht selber in den letzten Tagen mit dem Spachtel in der Hand auf die Leiter gestellt hätte, weil ich da ja noch fest mit Ihrem Besuch rechnete), und obwohl es bei unseren Partys zugegebenermaßen schon mal etwas, na ja, zugeht, haben mir die Jungs allesamt in die Hand versprochen, sich zu benehmen, sollten Sie uns die Freude machen, teilzunehmen.
    Bitte, überlegen Sie es sich noch mal, ja? (Charly würde Sie abholen, ich habe ihn gefragt. Er hat einen getunten Opel Commodore, der über 220 läuft. Damit wären Sie ratzfatz in Mülheim). Also, seien Sie so nett und denken Sie drüber nach. Noch ist Zeit.
    Mit den allerherzlichsten Grüßen und in Hoffnung auf eine positive Antwort,
    Ihr W. Heckhoff
     
    Ein einsames Männeken bewachte die Grenze. Froh über eine Abwechslung winkte es mir zu. Ich stoppte. Der Motor erstarb. Ich atmete tief durch. Er war klar, was jetzt käme.
    Bleib ruhig, Kristof, mahnte ich mich. Denk immer daran: Der Mann tut nur seine Pflicht.
    Mechanisch kurbelte ich das Seitenfenster herunter und griff nach den Papieren in der Sonnenblende.
    »Grenzkontrolle«, sagte der Zöllner knapp und ohne die müde Miene zu verziehen. Er war vielleicht ein paar Jahre älter als ich, also höchstens Ende Zwanzig, und verstand es prächtig, den Eindruck zu vermitteln, alles, aber auch alles kotze ihn an.
    Eine verwandte Seele, dachte ich.
    »Ihre Papiere.« Ich reichte sie ihm.
    »Ihr Fahrzeug, Herr . Kryszinski, befindet sich in keinem verkehrssicheren Zustand.«
    Ich blickte ihn an, als könne er das unmöglich ernst meinen.
    »Das Abblendlicht Ihres rechten«, er deutete, »Scheinwerfers ist defekt, Ihre Reifen«, er beugte sich ein wenig und leuchtete mit einer Taschenlampe, »sind abgefahren, und Ihre Windschutzscheibe fehlt zur Gänze.«
    Baff erstaunt tastete ich vor mich, als hätte ich das bis dahin noch gar nicht bemerkt, griff dann hindurch, wedelte perplex mit der Hand herum und ließ mich zu einem »Tatsächlich!« hinreißen.
    Wohl von meinem Beispiel angesteckt, griff der Beamte seinerseits durch die Öffnung, nur eben von draußen nach drinnen, pickte etwas aus der Ablage im Armaturenbrett und hielt es mir unter die Nase. Es war eine Packung Zigarettenblättchen, die wie durch ein Wunder dem Fahrtwind getrotzt hatte. Die eine Hälfte des Pappdeckels fehlte, fiel uns auf.
    »Was ist das?«, fragte er.
    »Das ist ein Fixerbesteck«, antwortete ich.
    »Steigen Sie bitte aus.« Er machte einen Schritt zurück, und meine Papiere verschwanden fürs erste in
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