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Der Widersacher

Der Widersacher

Titel: Der Widersacher
Autoren: Michael Connelly
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Sitz vor ihm gebeugt stand. Er hatte eine Kette um Chilton Hardys Hals geschlungen und würgte ihn von hinten. Hardys Gesicht hatte sich dunkelrot verfärbt, und seine Augen traten aus ihren Höhlen. Weil seine Handgelenke vor seinem Bauch zusammengekettet waren, konnte er sich nicht wehren.
    »Pell!«, brüllte Bosch. »Sofort loslassen!«
    Sein Befehl ging im Geschrei der Häftlinge unter, die Pell anfeuerten. Bosch machte noch zwei Schritte und warf sich gegen Pell, der dadurch zwar nach hinten geschleudert wurde, aber nicht weit genug weg von Hardy landete. Bosch merkte, dass Pell mit Handschellen an der Kette befestigt war, die er um Hardys Hals geschlungen hatte. Es war die Kette, die eigentlich um Pells Bauch hätte gehen müssen.
    Bosch versuchte, die Kette zu fassen zu bekommen, und schrie Pell an, sie loszulassen. Der Deputy hatte sich inzwischen hochgerappelt, konnte aber Bosch nicht zu Hilfe kommen, weil er die Flinte nicht aus den Händen lassen durfte. Chu zwängte sich an dem Mann vorbei und versuchte, die Kette zu fassen zu bekommen, die sich um Hardys Kehle gelegt hatte.
    »Nein, zieh an seiner Hand«, schrie Bosch.
    Chu packte eine von Pells Händen, Bosch zog an der anderen, und kurz darauf hatten sie den deutlich kleineren Mann überwältigt. Bosch nahm die Kette von Hardys Hals, woraufhin dieser nach vorn sackte und mit dem Gesicht gegen die Rückenlehne des Sitzes vor ihm schlug, bevor er zur Seite kippte und vor Chus Füßen auf dem Mittelgang landete.
    »Lasst ihn verrecken!«, brüllte Pell. »Lasst dieses Schwein verrecken!«
    Bosch drückte Pell auf seinen Sitz zurück und lehnte sich dann mit seinem ganzen Gewicht auf ihn.
    »Sie blöder Idiot«, keuchte Bosch. »Dafür wandern Sie wieder in den Knast, Clayton.«
    »Ist mir doch egal. Was soll ich denn draußen noch.«
    Er zitterte am ganzen Körper, und ihn schien alle Kraft zu verlassen. Laut stöhnend und von heftigem Schluchzen geschüttelt, stieß er immer wieder hervor: »Verrecken soll er, verrecken.«
    Bosch drehte sich um und schaute zu Chu und dem Deputy, die sich im Mittelgang um Hardy kümmerten. Er war entweder bewusstlos oder tot, der Deputy tastete an seinem Hals nach einem Puls. Chu hatte sich weit vornübergebeugt und hielt sein Ohr an Hardys Mund.
    »Ruf einen Rettungswagen!«, rief der Deputy nach vorn zum Fahrer. »Schnell! Ich finde keinen Puls.«
    »Ist schon unterwegs«, brüllte der Fahrer nach hinten.
    Der Hinweis auf den fehlenden Puls ließ wieder Leben in die Häftlinge im Bus kommen. Sie rasselten johlend mit ihren Ketten und trampelten auf den Boden. Bosch war nicht klar, ob sie wussten, wer Hardy war, oder ob es simple Blutgier war, die sie seinen Tod fordern ließ.
    Als Bosch in dem Lärm jemand husten hörte, schaute er nach unten und sah, dass Hardy zu sich kam. Er hatte immer noch einen knallroten Kopf, und seine Augen waren glasig. Aber sie waren kurz auf Bosch gerichtet, bevor sich die Schulter des Deputy dazwischenschob.
    »Er ist wieder bei Bewusstsein«, meldete der Deputy. »Er atmet.«
    Diese Nachricht wurde von den anderen Gefangenen mit lauten Buhrufen quittiert. Pell gab ein schrilles klagendes Winseln von sich. Bosch, der immer noch auf ihm saß, konnte ihn am ganzen Körper zittern spüren. In diesem einen Laut schienen sich das Leid und die Verzweiflung eines ganzen Lebens zu verdichten.

[home]
    42
    A m Abend stand Bosch auf der Terrasse und blickte auf das Lichterband des Freeways hinab. Er trug immer noch seinen besten Anzug, allerdings war die linke Schulter bei dem Handgemenge mit Pell ziemlich schmutzig geworden. Er sehnte sich nach einem Drink, aber er trank nichts. Um die Musik hören zu können, hatte er die Schiebetür offen gelassen. Er hatte aufgelegt, was er in ernsten Momenten immer auflegte. Frank Morgan am Tenorsaxophon. Nichts umschrieb die Stimmung besser.
    Die Verabredung mit Hannah Stone hatte er abgesagt. Die Ereignisse des Tages hatten ihm jedes Bedürfnis zu feiern ausgetrieben, sogar das Bedürfnis zu reden.
    Chilton Hardy hatte den Angriff im Gefängnisbus mehr oder weniger unbeschadet überstanden. Er war danach in die Gefängnisstation des County- USC Medical Center eingeliefert worden, wo er so lange bliebe, bis ihn die Ärzte entließen. Die Anklageerhebung gegen ihn wurde bis dahin verschoben.
    Clayton Pell war erneut festgenommen worden, und wegen des Angriffs auf Hardy wurden zusätzliche Anklagepunkte gegen ihn erhoben. Dazu kam noch ein Verstoß gegen die
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