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Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Titel: Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
Autoren: Jamil Ahmad
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nahm.

    Er stieg den ganzen Tag lang stetig höher und dachte dabei über seine Familie und sich selbst nach. Wenn er aus dem Erdgeschoss der Häuser, die an seinem Weg lagen, die Geräusche wiederkäuender Büffel hörte, fragte er sich, warum er selbst keine hatte. Während er an den Hütten mit Wassermühlen vorbeikam, erinnerte er sich, wie er als Kind seinen Vater, ebenfalls ein Mullah, gefragt hatte, warum sie nicht auch in einer Hütte wohnen konnten, durch die das Wasser lief. Sein Vater hatte ihn angesehen, aber nichts erwidert. Als Kind hatte er allmählich begriffen, dass ihre Familie – ganz gleich, was sein Vater zu glauben vorgeben mochte – von Almosen lebte. Mit der Klarsicht der Jugend hatte er ebenso erkannt, dass sein Vater die Mildtätigkeit der Leute, wenn schon nicht direkt erzwang, so doch mit einer Mischung aus Täuschung und Einschüchterung gewann. An einem Tag ängstigte er seine Gemeinde mit einer bildgewaltigen Schilderung göttlichen Zorns. An einem anderen linderte er das Elend ihres Lebens mit strahlenden Visionen von höchster himmlischer Seligkeit samt herumtänzelnden Huris.
    In seiner jugendlichen Unschuld hatte er sich eingebildet, er würde kein heuchlerischer Mullah wie sein Vater werden, sondern sich von alldem lösen. Doch als die Jahre ins Land gingen, erkannte er mit einer gewissen Angst, dass sein Leben nicht anders sein würde als das seines Vaters. Er studierte die Schriften und bereitete sich auf das Leben eines Mullahs vor und fragte sich dabei, ob wohl sein Vater in seiner Kindheit auch davon geträumt hatte, auszubrechen, aber den Kampf aufgeben musste, als ihm bewusst wurde, dass das Netz, das ihn festhielt, zu stark war.
    Fateh Mohammad stieg stetig höher. Er stieg durch Zeilen von Föhren, durchquerte Gruppen von wilden Ölbäumen und heiligen Eichen, die den Friedhof schützten. Als er die Tannenlinie erreichte, rastete er, um sein Gebet zu verrichten, aß etwas trockenes Brot, das er mit süßem Quellwasser hinunterspülte, und war dann für den Weitermarsch bereit. Die Nacht verbrachte er auf dem binsenbestreuten Fußboden einer Moschee, und am nächsten Morgen brach er in aller Frühe zur letzten Etappe seiner Wanderung auf.
    Jetzt, da der Mann des Hauses in vielversprechenden Geschäften unterwegs war, trug der Rest der Familie – selbst die jungen Mädchen – den Kopf ein bisschen höher als während des Winters. Sie wussten alle, dass sie nach Fateh Mohammads Rückkehr wenigstens für eine kurze Zeit nicht so hungern müssten wie während des Winters. Und da die Angst vor dem Hunger vorübergehend gebannt war, verspürte keine von ihnen das Hungergefühl, das sich einstellte, wenn die Aussichten düsterer waren. Während seiner Abwesenheit verrichteten Fateh Mohammads Frau und Töchter ihre Arbeit schwatzend und lachend. Sie verbrachten die Tage damit, das eine Zimmer, das sie hatten, zu reinigen. Sie mischten Büffelmist mit Schlamm und bestrichen damit Fußboden und Wände. Sie zermahlten etwas geborgtes Ocker- und Ziegelpulver und zeichneten damit Blumen- und Vogelmotive, die seit Generationen von Mutter auf Tochter weitergegeben worden waren.
    Sie flickten ihre Sachen mit Lappen, die sie aus zerrissenen und abgelegten Kleidungsstücken herausschnitten. Ihnen allen war bewusst, dass der Mann des Hauses, wenn er von seiner Reise zurückkehrte, ein glücklicher Mann wäre, und ebenso glücklich wäre eine Zeitlang das ganze Haus. Selbst sein Aufruf zum Morgengebet hätte etwas Schwungvolles an sich und würde nicht wehmütig ausklingen, wenn er zwischen den Bergen verhallte.
    Fateh Mohammad kehrte eines Nachmittags heim. Seine Angehörigen sahen ihn schon von ferne kommen. Am liebsten wären alle nach draußen gegangen und hätten ihm entgegengesehen. Auch er hatte es eilig, nach seiner langen Abwesenheit nach Hause zu kommen. Doch weder sie noch er durften ihre Ungeduld verraten, da dies womöglich Anlass zu zotigen Bemerkungen gegeben oder ihnen sogar einen schlechten Ruf eingebracht hätte. Also gaben sich beide Seiten betont gleichgültig, und erst als sie am späten Abend unter sich waren, konnten sie ihre Freude über das Wiedersehen zum Ausdruck bringen.
    Fateh Mohammad war vergnügter als gewöhnlich. Nachdem er eine Zeitlang geheimnisvoll getan hatte, platzte er mit der Neuigkeit heraus. In einer der Gemeinden von Eisschneidern hatte er einen jungen Mann kennengelernt, der während des Winters einen Bären gefangen und zum Tanzen
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