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Der Waldläufer

Titel: Der Waldläufer
Autoren: Gabriel Ferry
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Leere und halbleere Schubfächer lagen auf dem Boden. Nichts von allem aber zeugte bestimmte Spuren von Gewalt; eine freiwillige, aber übereilte Abreise konnte zu einer gleichen Unordnung in einem Zimmer Veranlassung geben.
    Das Bett der Gräfin, noch unberührt, bewies, daß sie sich nicht niedergelegt hatte, und enthüllte so den im voraus gefaßten Entschluß, den Augenblick der Abreise außerhalb des Bettes zu erwarten.
    Die Möbel waren an ihrem gewöhnlichen Platz, die Vorhänge der Fenster und des Alkovens waren nicht zerknittert; keine Spur eines Kampfes ließ sich auf dem Fußboden des Zimmers erblicken, der doch von zierlichen Steinchen verfertigt war, so daß die geringste ungewöhnliche Berührung ihn hätte verletzen oder Risse machen müssen.
    Der widerliche Geruch einer Lampe, die aus Mangel an Öl langsam erlischt, herrschte trotz der Luft, die hineindrang, noch in dem Zimmer; es war klar, daß man sie bis zum Morgen hatte brennen lassen – Verbrecher hätten sie ausgelöscht, um sich furchtlos ihrem traurigen Geschäft hingeben zu können –; tausend Kleinigkeiten endlich, die die Habgier hätten reizen können, waren in den Schubfächern geblieben. Zu all diesen trügerischen Anzeichen schüttelte der alte Juan de Dios mit einer Miene des Zweifels den Kopf. Er fand etwas in all diesen Dingen, was seinen Verstand verwirrte und seine Auffassungskraft – die übrigens niemals die beste gewesen war – überschritt; aber sein gesunder Verstand wehrte sich gegen den Gedanken, daß seine Herrin hätte fliehen können, und zwar auf eine außergewöhnliche Weise. In seinen Augen war offenbar ein Verbrechen begangen worden – aber wie sollte man es erklären? Der Mörder hatte keine Spuren zurückgelassen. Der alte, ehrenwerte Diener betrachtete mit trostlosem Auge dieses öde Zimmer, die auf dem Fußboden zerstreut liegenden Kleider seiner Gebieterin und die eingedrückte Wiege, die noch die Spur des jungen Grafen an sich trug und in der er den Tag vorher unter der Obhut seiner Mutter rosig und lächelnd schlief.
    Wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, ging Juan de Dios auf einen eisernen Balkon, der sich nur wenig über den Boden erhob. Seine Augen befragten das sandige Ufer, das sich unter dem Balkon ausdehnte; aber kein Abdruck war auf einer harten und kalkigen Fläche zurückgeblieben. Die Strandsteine rollten tosend auf das Ufer, ohne mehr von menschlichen Spuren zu verraten, als die Oberfläche eines Sees den Schatten der Vögel bewahrt, die darüber hinfliegen. Der Wind pfiff, der Ozean murrte wie immer, und unter diesen Stimmen der Natur erhob sich keine, um den Schuldigen zu entdecken. Nur am Horizont zeichneten sich noch die weißen Segel eines Schiffes, das das Weite suchte, auf dem fernen Azur des Meeres ab.
    Während der alte Diener schweigend betete und mit einem träumerischen Blick das Schiff, das enteilte, verfolgte, hörten alle Umstehenden – mit Ausnahme des Alkalden und des Escribano – traurig den düsteren Tönen des Windes zu, der sich in den Felsen verfing und auf diesen Höhen bei Tag und Nacht abwechselnd zu weinen, zu seufzen oder zu brüllen scheint.
    Der Alkalde und sein Schreiber teilten wohl stillschweigend die Ansicht Juans de Dios. Alle beide glaubten an ein Verbrechen; aber bei der Unmöglichkeit, das geringste sichtbare Zeichen zu finden, die Hand auf das geringste Individuum zu legen, das fähig war, die Kosten des Prozesses zu bestreiten, fanden sich der Escribano und der Alkalde, wie es die ruhmvolle Gewohnheit Spaniens ist, ganz befriedigt; der eine mit der so sehr ersehnten Belohnung, die er schon zu halten glaubte, der andere mit den zwölf Pachtjahren, die er sicher zu erhalten dachte.
    »Wahrhaftig, meine Herren«, sagte der Alkade, indem er sich gegen die Zeugen umwandte, »ich kann mir nicht erklären, welchen Einfall die Frau Gräfin von Mediana gehabt haben mag, um ihr Zimmer durch das Fenster zu verlassen, denn der Riegel der Ausgangstür, der von innen vorgeschoben ist, läßt keinen Zweifel an der Sache zu. Das ist Fraueneigensinn, und die Justiz hat nicht nötig, ihn zu erklären.«
    »Es ist vielleicht darum geschehen, um dem Herrn Alkalden keine Quittung zu geben«, sagte ganz leise einer der Zeugen zu seinem Nachbarn.
    »Doch noch eins!« sagte Cochecho, sich an Juan de Dios wendend. »Wie habt Ihr das Verschwinden der Gräfin bemerken können, da man doch nicht bei ihr eintreten konnte?«
    »Das ist sehr einfach«, antwortete der Greis.
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