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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige
Autoren: Edward Rutherfurd
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ihm: vierschrötig, knorrig wie eine Eiche, die breiten Schultern vornübergebeugt, als trüge er ständig eine schwere Last. Er war Köhler und ständig auf der Wanderschaft. Selbst die anderen Bewohner des New Forest wussten nicht, wo er sich gerade aufhielt. Manchmal, wenn das Feuer sein derbes Gesicht in ein rötliches Licht tauchte, sah er aus wie ein Gnom. Dennoch scharten sich die Kinder um ihn, sobald er in die Weiler kam, um Tore und Zäune aus Flechtwerk herzustellen, ein Beruf, auf den er sich besser verstand als jeder andere. Sie mochten seine ruhige Art. Auch die Frauen fühlten sich auf merkwürdige Weise von dem inneren Leuchten angezogen, das der Mann aus dem Wald auszustrahlen schien. In seinem Lager am Wasser hingen immer Tauben in der Vorratskammer. Das Fell eines Hasen oder eines anderen kleinen Tieres war fein säuberlich über Pflöcke gespannt; die Überreste einer Forelle, die er aus dem kleinen, braunen Bach gezogen hatte, waren ordentlich verstaut. Doch die Waldtiere hatten kaum Scheu vor ihm, so als spürten sie, dass er einer von ihnen war.
    Als er nun, angetan mit einem ledernen Wams und derben Lederstiefeln an den nackten Beinen, durch den finsteren Wald stapfte, hätte er genauso gut ein Wesen aus längst vergangenen Zeiten sein können.
     
     
    Die Hirschkuh verharrte auf der Stelle. Sie hatte sich ein Stück vom Rest des Rudels abgesondert, das friedlich die frischen Frühlingsgräser am Waldesrand äste.
    Trotz ihrer scharfen Augen und ihres hoch entwickelten Geruchssinns verlassen sich Hirsche hauptsächlich auf ihr Gehör, wenn es darum geht, eine Gefahrenquelle auszumachen. Ihre im Verhältnis zum Kopf großen Ohren ermöglichen es ihnen, Geräusche aufzufangen, die der Wind ihnen herüberträgt. Selbst das Knacken eines weit entfernten Zweiges können sie noch wahrnehmen, und deshalb wusste die Hirschkuh, dass Puckles Schritte nicht näher kamen.
    Sie war ein Damhirsch. Im New Forest gab es drei Sorten von Hirschen. Die großen Rothirsche mit ihrem rötlich-braunen Fell waren schon von alters her die Herrscher des Waldes. In manchen Gegenden kamen auch die seltenen Rehe vor, zierliche, kleine Geschöpfe, kaum größer als ein Hund. Vor kurzem jedoch hatten die normannischen Eroberer eine neue, wunderschöne Art eingeführt: die eleganten Damhirsche.
    Die Hirschkuh war fast zwei Jahre alt. Da sie gerade vom maulbeerfarbenen Winterfell zum sommerlichen Tarnkleid – hellbraun mit weißen Tupfen – wechselte, sah sie ein wenig fleckig aus. Wie fast alle Damhirsche hatte sie eine weiße Bauchseite und einen weißen Spiegel mit schwarzer Einfassung. Doch aus einer Laune der Natur heraus war ihr Fell ein wenig heller als gewöhnlich.
    Aber auch ohne diese Besonderheit wäre sie für einen Artgenossen unverwechselbar gewesen, da sich die Zeichnung des Spiegels bei jedem Tier leicht unterscheidet, ein einzigartiges Merkmal, so wie der Fingerabdruck beim Menschen – nur um einiges auffälliger. Und als ob dieses Kennzeichen nicht schon genug gewesen wäre, hatte die Natur ihr – vielleicht als Augenweide für den Menschen – ein weißliches Haarkleid geschenkt. Sie war ein hübsches Tier. In diesem Jahr, in der Brunftzeit im Herbst, würde sie einen Partner finden – falls sie nicht vorher von Jägern getötet wurde.
    Ihre Instinkte warnten sie noch immer, auf der Hut zu sein. Sie wandte den Kopf hin und her und lauschte. Dann richtete sich ihr Blick auf eine bestimmte Stelle. In der Ferne, zwischen den dunklen Bäumen, bewegte sich ein Schatten. Dicht daneben schimmerte ein abgeknickter Ast, der seine Rinde verloren hatte, wie ein Geweih. Der kleine Haselnussbusch dahinter hätte genauso gut ein Tier sein können.
    Im Wald waren die Dinge nicht immer das, was sie zu sein schienen. Erst nach einiger Zeit war die Hirschkuh sicher, dass keine Gefahr drohte, und sie senkte langsam den Kopf.
    Der morgendliche Chor stimmte sein Lied an. Draußen im Heidekraut setzte ein Schwarzkehlchen, das auf einem in der Dunkelheit gelblich schimmernden Stechginsterbusch saß, mit seinem abgehackten Trillern ein. Im Osten erhellte sich der Himmel. Ein Teichrohrsänger erhob die Stimme. Sein schrilles Zwitschern hallte durch die Luft. Dann begann eine Amsel in luftigen Baumkronen zu singen. Gleich darauf ertönte das lautstarke Hämmern eines Spechts, der zwei Wirbel auf die Rinde eines Baumes klopfte. Eine Turteltaube gurrte sanft. Und im nächsten Augenblick – es war noch immer dunkel – rief der
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