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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige
Autoren: Edward Rutherfurd
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Lymington. Rechts, am Rande einer Marsch, verkündete ein Schild an einem großen Bootsschuppen: SEAGULL’S BOATYARD.
    Ein paar Kilometer weiter westlich lag der Ärmelkanal. Dazwischen erstreckten sich die malerischen Gewässer des Meerarms, der Solent hieß, und dahinter zeichneten sich die grünen Hügel der Insel Wight ab. Als sie weiter nach Osten flogen, hob Dottie den Blick von der Karte und betrachtete die Küste.
    »Da«, sagte sie zufrieden. »Das muss es sein.«
    Der Pilot drehte sich zu ihr um. »Was?«
    »Througham.«
    »Nie davon gehört.«
    »Da sind Sie nicht der Einzige. Aber das wird sich rasch ändern.«
    »Möchten Sie über Beaulieu fliegen?«
    »Natürlich.« Hier sollte die erste Szene gedreht werden. Tief unter ihnen ließ sich die hübsche alte Abtei träge von der Sonne bescheinen. Dahinter befand sich, von Bäumen verborgen, das berühmte Kraftfahrzeugmuseum. Sie kreisten einmal darüber hinweg und machten sich dann auf den Rückweg nach Lyndhurst im Norden.
    Sie hatten die Stadt gerade passiert und hielten nordwestlichen Kurs auf Sarum, als Dottie Pride den Piloten bat, noch eine Schleife zu fliegen. Sie spähte nach unten, und es dauerte eine Weile, bis sie ihr Ziel ausgemacht hatte. Doch bald konnte sie es zweifelsfrei erkennen.
    Ein einsamer Gedenkstein ragte am Rande eines Wäldchens empor. Gleich daneben standen einige Autos auf einem mit Kies bestreuten Parkplatz, und die Journalistin bemerkte, dass sich rings um das kleine Denkmal mehrere Menschen scharten.
    »Der Rufusstein«, sagte sie.
    »Ach, den kenne ich«, erwiderte der Pilot.
    Nur wenige der Touristen, die jedes Jahr im New Forest wanderten oder zelteten, versäumten es, diesen sagenumwobenen Ort zu besichtigen. Der Stein markierte die Stelle, wo – einer neunhundert Jahre alten Legende zufolge – Wilhelm Rufus, der rothaarige Normannenkönig, unter geheimnisvollen Umständen auf der Jagd von einem Pfeil getötet worden war. Abgesehen von Stonehenge handelte es sich wohl um den berühmtesten aufrecht stehenden Stein in Südengland.
    »War da nicht einmal ein Baum?«, fragte der Pilot. »Von dem der Pfeil abprallte und den König traf?«
    »So heißt es wenigstens.« Dottie sah einen weiteren Wagen in den Parkplatz einbiegen. »Nur, dass er offenbar überhaupt nicht an dieser Stelle erschossen wurde«, fügte sie hinzu.



DIE JAGD
     
     
     
    1099
     
    Die Hirschkuh zuckte zusammen, und ein Beben fuhr durch ihren Körper, als sie aufmerksam die Ohren spitzte.
    Der nächtliche Frühlingshimmel wirkte noch wie von einem gräulich-schwarzen Schleier überzogen. Am Waldesrand mischte sich der torfige Geruch der nahen Heide mit dem des vermodernden Herbstlaubes vom letzten Jahr in der feuchten Luft. Es war so ruhig, als wartete die gesamte Britische Insel darauf, dass in der frühmorgendlichen Stille etwas geschehen würde.
    Und dann, plötzlich, stimmte eine Lerche in der Dunkelheit ihr Lied an. Als Einzige hatte sie den Lichtstreif am Horizont bemerkt.
    Immer noch argwöhnisch wandte die Hirschkuh den Kopf. Irgendetwas näherte sich.
     
     
    Puckle lief durch den Wald. Geräuschlosigkeit war dabei nicht weiter wichtig, denn wenn das Laub unter seinen Füßen raschelte oder ein Zweig zerbrach, würde man ihn für einen Dachs, ein Wildschwein oder einen anderen Waldbewohner halten.
    Links von ihm hallte der Ruf einer Eule unheimlich durch das finstere, geschwungene Blätterdach des Eichenwaldes.
    Puckle: War es sein Vater, sein Großvater oder ein anderer Urahn vor vielen Jahren gewesen, der diesen Namen zuerst geführt hatte? Niemand wusste, woher die vielen seltsamen Namen stammten, die im alten England so häufig vorkamen. An der Südküste gab es einige Anhöhen, die Puck Hill hießen. Vielleicht war Puckle ja davon abgeleitet. Oder es war als Verniedlichung gedacht: kleiner Puck. Doch diese Frage konnte keiner genau beantworten. Und niemand aus der Familie zerbrach sich weiter den Kopf darüber. Alter Puckle, junger Puckle, der andere Puckle: Man konnte sich nie ganz sicher sein, wer jeweils gemeint war. Nachdem Puckle und seine Familie von den Vasallen des neuen normannischen Königs aus ihrem Dorf vertrieben worden waren, waren sie eine Weile umhergewandert und hatten schließlich im westlichen Teil des New Forest am Ufer eines der Bäche, die in den Avon mündeten, ein vorübergehendes Lager aufgeschlagen. Vor kurzem waren sie ein paar Meilen nach Süden an einen anderen Bach umgezogen.
    Puckle. Der Name passte zu
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