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Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Titel: Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman
Autoren: Andrej Kurkow
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Dummheit zu tun, sondern mit dem Gewissen. Wenn ein Mensch Fremdes nicht braucht, und es ihm um das Eigene nicht leid ist. Genau das hab ich ihm gesagt. Aber er war nicht einverstanden. Da dachte ich darüber nach, warum das wohl so ist in unserem Land, dass so wenige Leute die Ehrlichkeit an sich selbst schätzen? Na?“
    „Ich weiß es nicht“, gab Pawel zu.
    „Siehst du, ich auch nicht. Ich gehöre ja auch zu diesen Leuten, ich schätze die Ehrlichkeit an mir selbst auch nicht so sehr. An den anderen schon, an mir selbst nicht besonders. Und gestern Abend … Na, dieser Brigadier und ich haben miteinander getrunken, und er zeigte mir so ein kleines Büchlein. Lenin selbst, sagt er, hat es geschrieben. Ich riss die Augen auf – von Lenin habe ich ja schon gehört. Und als nun der Brigadier in den Keller ging, um Salzgurken zu holen, nahm ich das Büchlein und steckte es unters Hemd. Gestohlen hab ich’s. Und warum? Schließlich kann ich gar nicht lesen. Und meine Alte auch nicht. Jetzt fahre ich also und quäle mich. Obwohl, so sehr auch wieder nicht, wenn ich ehrlich bin …“
    „Das ist nicht gut“, seufzte Pawel.
    „Das weiß ich ja“, seufzte seinerseits der Alte. „Aber was kann man jetzt machen?“
    „Gibt es bei euch im Bezirk eine Schule?“, fragte Pawel.
    „Natürlich.“
    „Dann nimm es und schenke es der Schule, damit die Kinder es lesen können. Dort wird es von Nutzen sein“, sagte Dobrynin besonnen. „ Sogar noch mehr als im Haus des Brigadiers.“
    „Oooh …“, machte der Kutscher nachdenklich. „Das ist wirklich weise … und gerecht … So mache ich es. Zuerst bring ich dich ans Ziel, und dann fahre ich sofort zur Schule. Ich kenne die, die Lesen und Schreiben unterrichtet. Ihr gebe ich es.“
    Sie fuhren noch lange. Der Gaul war alt und brachte kaum ein Bein vor das andere. Das Fuhrwerk bedeutete für ihn das Gleiche wie zwanzig Waggons für eine schwache Dampflok. Mal schwieg der Alte, mal redete er über irgendetwas, aber nicht mehr über die Ehrlichkeit, sondern über so allerlei aus dem Alltag. In den Minuten der Stille dachte Pawel in gespannter Erwartung über seine Zukunft nach, und in den übrigen Minuten hörte er dem Alten zu, der sich nicht mehr nach ihm umdrehte, sondern immer nach vorne auf den Weg sah, während er erzählte. So erreichten sie nach einiger Zeit die ersten Hütten des Bezirksdorfes. Der Alte erzählte Pawel, dass es vor der Revolution mehr als hundert Bauernwirtschaften in seinem Dorf gegeben habe und dass er nicht wüsste, wie viele es jetzt seien. Die Kolchoswirtschaft dort sei zwar groß, aber schwerfällig.
    Sie hielten vor einer Hütte mit roter Fahne auf dem Dach. Aus dem in den Himmel ragenden Schornstein, an dem die Fahnenstange befestigt war, stiegen dichte und flockige Rauchschwaden, so als ob feuchte Kohle verbrannt würde. Der Rauch stieg empor und hob den roten Fahnenstoff mit sich hoch, was von unten so aussah, als ob die Fahne schwarz-rot wäre.
    „Da sind wir“, sagte der Alte, nachdem er vom Wagen gesprungen war. „Geh hinein und frag nach dem Sekretär Kowalenkow. Und ich fahre zur Schule! Viel Glück!“
    Pawel erklomm die Schwelle der Hütte des Sekretärs und blickte zurück. Der Alte stand vor dem Pferd, streichelte es und sah dabei dem Tier streng in die Augen. In der Hütte roch es nach Hund. Gleich in der Diele war ein langes Brett mit nach oben gebogenen Nägeln an der Wand befestigt. An einem Nagel hing ein Mantel, an einem anderen eine mit Lehm verschmierte Wattejacke.
    Pawel ging zu einer angelehnten Tür und klopfte an.
    „Wer ist da?“, ertönte es von drinnen.
    Er trat ein und befand sich in einer geräumigen Stube, die in ein Dienstzimmer verwandelt worden war. Anstelle einer Ikone hing in der roten Ecke ein auf ein Stück Karton geklebtes Bild von Lenin. Pawel kannte das Bild, aus irgendeinem wichtigen Anlass war es in den Zeitungen gewesen.
    „ Guten Tag!“ Der Mann hinter dem Tisch lenkte die Aufmerksamkeit des Besuchers auf sich. „Wollen Sie zu mir?“
    „Ich … Man hat mich zum Kontrolleur gewählt …“
    „Ach ja, man hat mich bereits angerufen. Pawel Aleksandrowitsch Dobrynin, nicht wahr?“
    Pawel nickte. Der Mann stand unvermutet auf und streckte Pawel seine breite, schwielige Hand entgegen.
    „Sehr erfreut, Sie kennenzulernen“, sagte er.
    Pawel drückte die Hand des Sekretärs. Dann setzte er sich an den Tisch.
    „So.“ Kowalenkow setzte sich ebenfalls an seinen Platz. „Mir wurde
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