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Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann
Autoren: Richard Rötzer
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rodeten und urbar machten und dörfliche Siedlungen und Kirchen errichteten. Im Scriptorium des Klosters entstanden wertvolle Handschriften, in der Schule wurden die Söhne der Vornehmen und manchmal auch begabte Bauernburschen der Umgebung unterrichtet, im Garten wurde mit Kräutern und Feldfrüchten experimentiert, um die Heilkunst zu fördern und die Erträge des Bodens zu verbessern.
    Die Kirche war nach dem Einsturz der alten Basilika in der neuen, noch ungewohnten Bauart errichtet worden mit einer hohen, lichtdurchfluteten Halle, schlanken Pfeilern und spitzbogigen Fensterrahmen. Jakob war jedesmal aufs neue in Bann geschlagen und konnte sich kaum satt sehen am Reichtum der schmückenden und belehrenden Figuren, freute sich aber noch aus einem anderen Grund auf diesen Ort der Erbauung. Denn in und um Benediktbeuern war oft wundersame Musik zu hören. Nicht nur die Ehrfurcht gebietenden, von andächtigen Stimmen getragenen Choräle der Mönche bei Meßfeiern und Stundengebeten, die ihm jedesmal einen frommen Schauer über den Rücken jagten, hatten es ihm angetan, sondern vor allem die frechen Lieder, die man in der Schenke von Laingruben neben dem Kloster oder in den nahen Dörfern von Zeit zu Zeit hören konnte. Sie handelten von Minne und Liebesleid, von Bettlern und Spielleuten, von Trinkspielen und derben Streichen, von Glück und Vergänglichkeit. Sie priesen überschwenglich den Frühling, besangen die Arbeit des Landmannes, stellten satirisch die Welt auf den Kopf und spiegelten überschäumende Daseinsfreude wider. Zwar verstanden nur die wenigsten Zuhörer den Wortlaut der Verse, denn sie waren überwiegend lateinisch verfaßt. Aber die Musik war so mitreißend und die Sänger und Spielleute ließen durch kurze Erklärungen, lebhafte Mimik und Gesten einen so lebendigen Bilderreigen entstehen, daß jedermann die Handlung verstand und lachend und schenkelklopfend folgen konnte. Nicht, daß nun die Mönche die frivolen Verse ersonnen und erdichtet hätten – Gott bewahre! Aber sie hatten sie gesammelt und aufgezeichnet. Es hieß, der selige Abt Ortolf selbst habe vom Konzil in Lyon eine reiche Sammlung von Versen in der Tradition der südfranzösischen Troubadours mitgebracht, und die Mönche hätten diese nach und nach mit heimischen Gesängen und Singspielen ergänzt.
    Es war ein merkwürdiges Zusammenwirken: Frivole Lieder von Vaganten und Spielleuten, die zu den unehrenhaften und oft geschmähten Gruppen der Bevölkerung zählten, wurden von ehrenwerten und heiligmäßigen Mönchen gesammelt und bewahrt. Vielleicht baute der Abt darauf, daß auch der größere Teil seiner Brüder nur eingeschränkt des Lateinischen mächtig war. Und wie viele aufrichtige Schreiber mochten tatsächlich sogar die Weisheiten des Aristoteles Buchstabe für Buchstabe kopieren, ohne auch nur ein Wort davon zu verstehen. Vielleicht war es auch nur eine seltene Haltung von bewundernswerter Toleranz, getreu dem Worte des Herrn im Gleichnis vom Sämann: »Laßt beides wachsen bis zur Ernte, damit ihr nicht, wenn ihr das Unkraut sammelt, mit ihm zugleich den Weizen herausreißt!« Jedenfalls mochte es um eine Schöpfung, in der das Sündhafte neben dem Heiligen existieren durfte, bis daß dereinst der Herr selbst und nicht schon zuvor seine eifernden Knechte es voneinander schieden, nicht gar zu schlecht bestellt sein.
    Jakob verließ die Landstraße, die nach Südwesten abzweigte und folgte einem schmalen Pfad entlang der Loisach, bis er an eine Stelle kam, an der ihn ein alter Fischer nach gehörigem Zureden für einen Obolus übersetzte. Von dort aus hatte er nur noch eine knappe Wegstunde bis zum Kloster. Es war ein Umweg, aber Jakob nahm in gerne in Kauf um der Verlockungen willen, die der Ort für ihn bereithielt.
    Zwischen der Sext und der Non erreichte er schließlich Benediktbeuern und begab sich am Bruder Pförtner vorbei als erstes in die Kirche, wo er eine Weile stille Andacht und innere Zwiesprache hielt, dem Herrn dankte und sich seinem Schutz für den weiteren Weg empfahl.
    Der Hunger ließ sich allmählich nicht mehr unterdrücken. Dieser leiblichen Aufforderung wollte er jetzt gerne Folge leisten und lenkte seine Schritte zielstrebig zum Gästehaus, wo der Bruder Hospitarius ihm sogleich einen Teller Graupensuppe und einen Becher Wein vorsetzte und sich danach wieder zurückzog. Der junge asketische Mönch wirkte ein wenig streng und selbstgerecht, ganz so, als ob er eisern die Regel befolgte.
    Jakob hielt
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