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Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)

Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)

Titel: Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
Autoren: Thomas Kastura
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beneidete sie darum und ließ das Thema ruhen. Je weniger Gedanken sich Sheila machte, umso besser. Valerie war es immer gelungen, ihre Tochter aus dem Schlimmsten herauszuhalten. Das sollte so bleiben.
    Dann dachte sie daran, dass Sonntag war. Dr. Joos hatte seit zwei Tagen versucht, mit ihr zu sprechen. Aber da sie seit Mitte November Doppelschichten schob und private Telefonate während der Arbeit verboten waren, hatte er sie erst jetzt erreicht. Bestimmt berechnete er einen erhöhten Wochenendtarif.
    »Sie ist jung«, sagte Valerie schließlich. »Sie kommt schon klar.«
    »Na dann.« Joos klappte den schmalen Aktenordner zu. Er enthielt einen unappetitlichen, aber einfachen Fall. Viel brachte er nicht ein. Aber der Aufwand war minimal gewesen, das Kosten-Nutzen-Verhältnis stimmte. »Alles Gute. Ich wünsche Ihnen einen geruhsamen Advent.«
    »Das wünsche ich Ihnen auch«, antwortete Valerie reflexhaft, »Ihnen und Ihrer Familie.« Sie schaute aus dem Fenster. Der Wind blies ein paar Schneeflocken vom Fensterbrett, eine geisterhafte Hand, die sich anschickte, alles, was vergangen war, zu entfernen.
    Valerie hatte das Gefühl, noch etwas zum Abschluss sagen zu müssen. Wie oft hatte sie die Ereignisse aus jener Nacht im Geiste durchgespielt? Monatelang war ihr Kopf damit angefüllt gewesen. Die eine, die gültige Version hatte sich schnell herausgebildet. Sie gegen alle Fragen, Einwände und Spekulationen zu verteidigen erwies sich als schwieriger. Es erforderte Disziplin und Beharrlichkeit. Immer wieder brachte sie ihre Aussage mit ihren Erinnerungen in Einklang, sagte sich die Worte vor. Auf ähnlich sture Weise hatte sie sich Gesprächsszenarien beim Telefonmarketing eingeprägt. Inzwischen kamen ihr die einzelnen Abschnitte des Skripts, das sie bei ihrer Einstellung erhalten hatte, ohne Nachdenken über die Lippen. Solch ein Automatismus ließ sich nicht so einfach abstellen. Deswegen war sie es auch nicht mehr gewohnt, kommentarlos aufzulegen. Sie spulte einfach nur ab, was sie einstudiert hatte, an ihrem Headset ebenso wie auf der Polizeidienststelle. Reden und Schweigen wurden eins.
    »Danke«, sagte sie schließlich. Der Anwalt hatte nur getan, wofür sie ihn bezahlte. Trotzdem empfand sie plötzlich eine Verbundenheit für diesen nüchternen Menschen. Seine Anteilnahme hielt sich in berufsmäßigen Grenzen, aber er vertrat ihre Interessen. Er war einen kleinen Teil der Strecke mit ihr gegangen. Das war eine seltsame Erfahrung für Valerie. Sie wusste nicht, ob überhaupt einmal irgendjemand auf ihrer Seite gestanden hatte. Wie bewegt man einen anderen dazu, einem zu helfen? Sie wünschte, sie hätte sich früher an Dr. Joos gewandt.
    »Danke für alles«, wiederholte sie.
    Er hatte längst aufgelegt.

    Raupach nahm sein Abendessen ein. Es bestand aus einem Brathering mit Graubrot und Butter. Dazu trank er schwarzen Tee mit einem Löffel Zucker. Er mochte Heringe. Sie schmeckten richtig salzig im Gegensatz zu den meisten anderen Fischen. Er musste an die Normandie denken. Dort hatte er seinen letzten Urlaub verbracht und als Vorspeise hareng saur gegessen, Bückling. Vor drei Jahren war das gewesen. Raupach hatte die Reise allein gemacht. Er fuhr nicht oft weg.
    Nachdem er Teller und Besteck abgewaschen hatte, räumte er seine Wohnung auf. Er machte das jetzt jeden Sonntag in der Hoffnung, dass er dadurch ordentlicher würde. Als Photini ihn zum ersten Mal besucht hatte, wollte sie erst gar nicht hereinkommen. »Wie sieht’s denn bei dir aus?«, hatte sie gesagt und sich geweigert, einen Fuß über seine Schwelle zu setzen, bevor er nicht zumindest die Teller mit den festgetrockneten Essensresten entsorgt hatte.
    Raupach legte Zeitungen und Magazine auf einen Stapel. Er ordnete herumliegende CDs ein und räumte seine Schuhe in ein Schränkchen, das er extra für diesen Zweck angeschafft hatte. Er faltete seine graue Fleecedecke zusammen. Letzte Nacht hatte er sich darin eingewickelt und im Fernsehen einen Malkurs auf Englisch angeschaut. Er konnte nicht malen und würde vermutlich auch niemals damit anfangen. Aber es entspannte ihn, dem fröhlichen, immer gut gelaunten Mallehrer dabei zuzusehen, wie er in einer halben Stunde ein fertiges Gemälde auf der Leinwand entstehen ließ. Die Bilder waren scheußlich, Landschaften in grellen, kitschigen Farben. Der Mann stammte aus Florida, da waren die Farben intensiver. Doch deswegen musste er nicht jeden Sonnenuntergang in eine Orgie aus Gelb, Pink und
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