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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat
Autoren: John Grisham
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ich den unangenehmen Geruch von Misters klebriger Gehirnflüssigkeit in der Nase. Es war dunkel, und für einen Augenblick geriet ich in Panik. Ich rieb mir Nase und Augen und warf mich auf dem Sofa herum, bis ich eine Bewegung hörte. Claire schlief im Sessel neben mir.
    »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie und legte mir die Hand auf die Schulter.
    »Du hast nur schlecht geträumt.«
    »Könntest du mir ein Glas Wasser holen?« fragte ich. Sie ging in die Küche.
    Wir redeten eine Stunde lang. Ich erzählte ihr alles, woran ich mich erinnern konnte. Claire saß neben mir, strich mir über das Knie, hielt das Glas Wasser und hörte aufmerksam zu. In den letzten Jahren hatten wir so wenig miteinander gesprochen.
    Sie musste um sieben Uhr zur Visite im Krankenhaus sein, und so machten wir uns gemeinsam ein Frühstück aus Waffeln und gebratenem Speck. Wir aßen an der Küchentheke, auf der auch ein kleiner Fernseher stand. Die Sechs-Uhr-Nachrichten begannen mit dem Geiseldrama. Man sah das Gebäude der Kanzlei, die wartende Menge der Gaffer und einige meiner befreiten Kollegen, wie sie nach unserer Befreiung eilig das Haus verließen. Mindestens einer der Hubschrauber hatte dem Fernsehsender gehört. Durch das Teleobjektiv konnten wir ein paar Sekunden lang Mister erkennen, der durch die Jalousie spähte.
    Er hieß Devon Hardy, war fünfundvierzig Jahre alt und ein Vietnamveteran mit einem kurzen Vorstrafenregister.
    Hinter der Sprecherin wurde ein Polizeifoto eingeblendet, das nach einer Festnahme wegen Einbruchs gemacht worden war. Der Mann auf dem Foto sah überhaupt nicht wie Mister aus: Er trug weder Bart noch Brille und war viel jünger. Es hieß, er sei obdachlos und drogensüchtig gewesen. Ein Motiv für seine Tat sei nicht bekannt, und es hätten sich keine Angehörigen gemeldet.
    Unsere Kanzlei gab keinen Kommentar ab, und damit war die Geschichte zu Ende.
    Als nächstes kam der Wetterbericht. Am späten Nachmittag musste mit heftigen Schneefällen gerechnet werden. Es war der 12. Februar, und der Schnee hatte bereits Rekordhöhen erreicht.
    Claire fuhr mich zur Kanzlei. Es wunderte mich keineswegs, dass neben meinem Lexus noch andere Importwagen standen. Der Parkplatz war nie leer. Bei uns gab es Leute, die im Büro schliefen.
    Ich versprach Claire, sie am späten Vormittag anzurufen. Wir wollten versuchen, in der Nähe des Krankenhauses gemeinsam zu Mittag zu essen. Sie wollte, dass ich ein bißchen kürzer trat, wenigstens für ein oder zwei Tage.
    Was sollte ich tun? Auf dem Sofa liegen und Tabletten schlucken? Man schien allgemein der Ansicht zu sein, dass ich einen freien Tag gebraucht hätte und dann wieder mit voller Kraft arbeiten würde.
    Ich wünschte den beiden sehr wachsamen Sicherheitsleuten in der Lobby einen guten Morgen. Drei der vier Aufzüge standen bereit, so dass ich die freie Wahl hatte. Ich entschied mich für den, mit dem Mister und ich gefahren waren, und mit einemmal schien die Zeit stillzustehen.
    Hundert Fragen zugleich stürmten auf mich ein: Warum war er ausgerechnet in dieses Gebäude gegangen? Warum in unsere Kanzlei? Wo war er gewesen, unmittelbar bevor er die Lobby betreten hatte? Wo waren die Sicherheitsleute gewesen, die normalerweise in der Nähe des Eingangs postiert waren? Warum ich? Hier gingen täglich Hunderte von Anwälten ein und aus. Warum die fünfte Etage?
    Und was hatte er eigentlich gewollt? Ich glaubte nicht, dass Devon Hardy sich die Mühe gemacht hatte, Sprengstoff an seinem Körper zu befestigen und sein Leben -mochte es auch noch so unbedeutend gewesen sein - zu riskieren, nur um ein paar reiche Anwälte für ihren Geiz zu bestrafen. Er hätte reichere Leute finden können. Vielleicht auch gierigere.
    Seine Frage: »Wer sind die Zwangsvollstrecker?« war nie beantwortet worden. Doch die Antwort sollte nicht lange auf sich warten lassen.
    Der Aufzug hielt, und ich stieg aus, ohne dass mir diesmal jemand folgte. Um diese Uhrzeit lag Madame Devier noch im Bett, und in der fünften Etage war es still. Vor ihrem Tisch blieb ich stehen und starrte auf die beiden Türen zum Konferenzraum. Langsam öffnete ich die vordere, in der Umstead gestanden hatte, als die Kugel über seinen Kopf hinweggeflogen war und in den von Mister eingeschlagen hatte. Ich atmete tief durch und schaltete das Licht an.
    Es war nichts geschehen. Der Konferenztisch und die Stühle standen ordentlich da. Der Orientteppich, auf dem Mister gelegen hatte, war durch einen noch schöneren
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