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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat
Autoren: John Grisham
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Gebäudes und sah mir den Menschenauflauf vor dem Haupteingang an. Dort standen Polizeiwagen, Krankenwagen und ein paar Übertragungswagen von Fernsehgesellschaften. Sogar die Feuerwehr war da. Man packte die Gerätschaften wieder ein und fuhr davon. Einer der Krankenwagen parkte mit dem Heck zum Gebäude und wartete offenbar darauf, Mister in die Leichenhalle zu bringen.
    Ich lebe! Ich lebe! Ich sagte es mir immer wieder vor. Zum erstenmal lächelte ich. Ich lebe!
    Ich schloss fest die Augen und sprach in Gedanken ein kurzes, aber inniges Dankgebet.
    Ich hörte wieder die Geräusche. Wir saßen schweigend im Wagen. Polly fuhr langsam und wartete darauf, dass ich etwas sagte. Ich hörte den durchdringenden Knall des Scharfschützengewehrs, den dumpfen Einschlag der Kugel, die Schritte der anderen Geiseln, die vom Tisch sprangen und zur Tür rannten.
    Was hatte ich gesehen? Ich hatte einen Blick zum Tisch geworfen, wo meine sieben Kollegen gesessen und gespannt auf die Tür gestarrt hatten, und dann wieder zu Mister geblickt, der die Pistole gehoben und auf Umsteads Kopf gezielt hatte. Als die Kugel ihn getroffen hatte, war ich unmittelbar hinter ihm gewesen. Wie kam es, dass sie nicht wieder aus seinem Körper ausgetreten war und mich getroffen hatte? Kugeln konnten Wände, Türen und Menschen durchschlagen.
    »Er wollte uns nicht töten«, sagte ich, gerade so laut, dass sie es verstehen konnte.
    Polly war erleichtert, dass ich das Schweigen brach. »Was hatte er vor?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Was wollte er?«
    »Das hat er nicht gesagt. Es ist erstaunlich, wie wenig gesprochen wurde. Wir haben stundenlang bloß dagesessen und uns angesehen.«
    »Warum wollte er nicht mit der Polizei sprechen?«
    »Keine Ahnung. Das war sein größter Fehler. Wenn er mich hätte telefonieren lassen, hätte ich die Polizei davon überzeugen können, dass er uns nicht umbringen wollte.«
    »Sie geben aber nicht der Polizei die Schuld, oder?«
    »Nein. Erinnern Sie mich daran, dass ich mich schriftlich bedanke.«
    »Werden Sie morgen arbeiten?«
    »Was sollte ich sonst tun?«
    »Ich dachte nur, ein freier Tag würde Ihnen vielleicht gut tun.«
    »Ich brauchte eher ein freies Jahr. Ein Tag ist nicht genug.« Unsere Wohnung lag im zweiten Stock eines Reihenhauses in der P Street in Georgetown. Polly hielt am Bordstein. Ich dankte ihr und stieg aus. An den dunklen Fenstern erkannte ich, dass Claire noch nicht zu Hause war.
    Ich hatte Claire eine Woche nach meinem Umzug nach Washington kennengelernt, mein Studium in Yale lag hinter mir, und ich war von einer großen Kanzlei eingestellt worden. Vor mir und den anderen fünfzig Jahrgangsbesten lag eine glänzende Zukunft. Claire war gerade dabei, ihren Abschluss in Politikwissenschaft an der American University zu machen. Ihr Großvater war Gouverneur von Rhode Island gewesen, und ihre Familie hatte seit Jahrhunderten exzellente Beziehungen.
    Das erste Jahr betrachtet man bei Drake & Sweeney - wie in den meisten anderen Kanzleien - als eine Art Grundausbildungszeit. Ich arbeitete sechs Tage pro Woche, fünfzehn Stunden am Tag. Sonntags trafen wir uns. Sonntags abends war ich wieder im Büro. Wir dachten, wenn wir heirateten, würden wir mehr Zeit füreinander haben. Wenigstens würden wir im selben Bett schlafen, aber schlafen war dann auch so ziemlich das einzige, was wir dort taten.
    Die Hochzeit war aufwendig, die Flitterwochen waren kurz, und als der erste Glanz verblasst war, arbeitete ich wieder neunzig Stunden pro Woche. Im dritten Monat unserer Ehe hatten wir achtzehn Tage nacheinander keinen Sex. Claire zählte sie.
    In den ersten Monaten hielt sie sich tapfer, aber nach und nach wurde sie es leid, ständig vernachlässigt zu werden. Ich konnte sie verstehen, doch in den heiligen Hallen von Drake & Sweeney war man über Klagen junger Mitarbeiter nicht erbaut. Weniger als zehn Prozent der Berufsanfänger wurden zu Teilhabern gemacht, und so war die Konkurrenz gnadenlos. Die Belohnung war allerdings dementsprechend hoch - mindestens eine Million Dollar im Jahr -, und die Abrechnung möglichst vieler honorarfähiger Stunden erschien wichtiger als eine glückliche Ehefrau. Scheidungen waren an der Tagesordnung. Ich dachte nicht einmal im Traum daran, Rudolph zu bitten, mein Pensum zu verringern.
    Am Ende unseres ersten Ehejahres war Claire sehr unglücklich, und wir begannen uns zu streiten.
    Sie wollte nicht mehr zu Hause sitzen und fernsehen, und da sie fand, sie könne genauso
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