Der verlorene Ursprung
einen der grünen Plastikstühle gesetzt, die neben einem Getränkeautomaten an der Wand standen, und versuchte den Kleinen mit einem Päckchen Papiertaschentücher abzulenken, zum Glück erfolgreich. Die Stühle neben ihr hatten Risse oder Flecken und boten ein trauriges Bild.
»Sie sind gleich da.« Ich setzte mich neben Ona und hielt meinem Neffen das winzige Handy hin, nachdem ich die Tastensperre eingeschaltet hatte. Ona hatte das Telefon meines Bruders schon öfter durch die Luft fliegen und klappernd auf dem Boden aufschlagen sehen und wollte mich zurückhalten, aber ich bestand darauf. Prompt war Dani für nichts anderes mehr zu haben, er war völlig gebannt von dem funkelnden Spielzeug.
»Wenn Lola und Marc ihn abholen«, Ona deutete mit dem Kinn auf den Kleinen, »warten wir am besten hier, falls der Arzt rauskommt und mit uns reden will.«
»Daniel liegt auf dieser Station?« Ich betrachtete verwirrt den langen Korridor zu unserer Linken und das Schild »Neurologie« über dem Türsturz.
Ona nickte. »Das habe ich dir schon erzählt, Arnau.«
Sie hatte mich ertappt, und es kam nicht in Frage, mit zerstreuten Gesten darüber hinwegzugehen. Dennoch strich ich mir unwillkürlich übers Kinnbärtchen und stellte fest, daß meine Barthaare von der Nässe und dem Dreck in den Kanälen ganz rauh waren und vor Schmutz starrten.
»Entschuldige, Ona. Mich ... verwirrt das hier. Ich weiß, du mußt denken, ich hätte sie nicht alle, aber . Könntest du mir noch mal alles von vorne erzählen, bitte?«
»Alles . ? Ich habe das Gefühl, du hast mir überhaupt nicht zugehört, aber . Egal: Daniel ist gegen halb vier von der Uni gekommen. Der Kleine war gerade eingeschlafen. Nach dem Essen haben wir eine Weile darüber geredet, daß . also, wir sind ein bißchen knapp bei Kasse, und, weißt du, ich würde gerne wieder studieren, und . Jedenfalls ist Daniel dann wie immer in seinem Arbeitszimmer verschwunden, und ich bin im Wohnzimmer geblieben und habe gelesen. Ich weiß nicht, wie lange. Der Kleine ...« Sie sah auf Dani hinunter, der eben ausholte, um mein Handy gegen die Wand zu werfen; er wollte wohl hören, wie das klang. »He! Nein, nein, nein! Gib das her! Gib es Arnau zurück!«
Gehorsam streckte Dani mir das Telefon entgegen, besann sich aber im letzten Moment eines Besseren und setzte sich einfach über die abwegige Bitte seiner Mutter hinweg.
»Na schön ... Jedenfalls bin ich auf dem Sofa eingeschlafen.«
Ona stockte. »Und ich weiß nur, daß ich wach werde, weil mir jemand seinen Atem ins Gesicht bläst. Ich schlage die Augen auf und kriege einen wahnsinnigen Schreck: Daniel ist direkt vor mir und starrt mich mit stierem Blick an wie in einem Horrorfilm. Er kniet vor dem Sofa, das Gesicht keine Handbreit vor meinem. Ein Wunder, daß ich nicht losgeschrien habe. Ich schimpfe, er soll den Quatsch lassen, das wäre kein bißchen witzig, und da sagt er, als hätte er mich überhaupt nicht gehört, daß er gerade gestorben ist und daß ich ihn begraben soll.«
Onas Lippen begannen zu zittern. »Ich habe ihn weggestoßen und bin vom Sofa aufgesprungen. Ich war so erschrocken, Arnau! Daniel hat sich überhaupt nicht mehr gerührt, er hat keinen Ton von sich gegeben, er hat nur so leer vor sich hin gestarrt, als wäre er wirklich tot.«
»Und weiter?« Ich hatte große Mühe, mir meinen Bruder in dieser Situation vorzustellen. Daniel war der normalste Typ der Welt.
»Als mir klar wurde, daß es kein blöder Scherz war und er wirklich nicht reagiert, habe ich versucht, dich zu erreichen, aber du bist nicht ans Telefon gegangen. Daniel hat sich aufs Sofa gesetzt und die Augen zugemacht. Dann hat er sich nicht mehr gerührt. Ich habe den ärztlichen Notdienst angerufen und ... Also, die meinten, ich soll ihn hierherbringen, ins Custodia. Ich habe ihnen erklärt, daß ich das nicht kann, daß er dreißig Kilo schwerer ist als ich und gleich vornüberkippt wie ein Mehlsack, daß sie kommen sollen und mir helfen, weil er sich sonst den Kopf auf dem Boden aufschlägt . « Ona standen Tränen in den Augen. »Mittlerweile war Dani aufgewacht und hat in der Wiege geschrien . O Gott, Arnau, es war grauenvoll!«
Mein Bruder und ich waren gleich groß, fast ein Meter neunzig, doch er wog gut und gern hundert Kilo, weil er ja fast nur am Schreibtisch saß. Meine Schwägerin hätte ihn schwerlich vom Sofa hochheben und irgendwohin schaffen können. Ein Wunder, daß sie ihn überhaupt hatte aufrecht halten
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