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Der verbotene Ort

Titel: Der verbotene Ort
Autoren: Fred Vargas
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ist ein ›nicht viel‹, das für den, der es gesehen hat, schwer wiegen kann. Darum wird der Friedhof nachts überwacht. Darum fährt der Kollege nicht allein hin, darum sitzen wir hier im Auto, statt im Hotel in aller Ruhe einen zur Brust zu nehmen.«
    »Einen zur Brust zu nehmen, mit wem, Danglard?«
    Danglard verzog das Gesicht. Adamsbergs Auge entgingen die feinsten Faserungen des Lebens nicht, auch wenn diese Faserungen ein Säuseln, eine kaum wahrnehmbare Empfindung, ein Lufthauch waren. Natürlich hatte der Kommissar diese Frau auf dem Kongress längst bemerkt. Und während er selbst noch die Tatsachen in zermürbender Besessenheit immer und immer wieder analysierte, schien Adamsberg sich schon ein fest umrissenes Bild gemacht zu haben.
    »Mit ihr«, warf Adamsberg in das Schweigen hinein. »Mit der Frau, die auf den Bügeln ihrer roten Brille herum beißt, der Frau, die immer zu Ihnen herübersieht. Auf ihrem Anstecker steht ›Abstract‹. Ist das ihr Vorname?«
    Danglard lächelte. Dass die einzige Frau seit zehn Jahren, die mal wieder seinen Blick gesucht hatte, sich »Abstrakt« nennen könnte, würde schmerzlich gut zu ihm passen.
    »Nein. Das ist ihr Job. Ihre Aufgabe ist es, die Kurzfassungen der Vorträge einzuholen und zu verteilen. Ein Resümee nennt sich abstract .«
    »Ah, sehr gut. Und wie heißt sie also?«
    »Das habe ich nicht gefragt.«
    »Der Vorname ist doch das Erste, was man wissen muss.«
    »Ich möchte als Erstes wissen, was sie im Kopf hat.«
    »Und das wissen Sie nicht?«, meinte Adamsberg überrascht.
    »Wie sollte ich denn? Da müsste man sie zunächst mal fragen. Und wissen, ob man fragen darf. Und sich fragen, was man wissen darf.«
    Adamsberg seufzte und gab es auf, Danglard in seine hochgeistigen Mäander zu folgen.
    »Dabei hat sie allerhand Ernstes im Kopf«, fuhr er fort. »Woran ein Glas mehr oder weniger heute Abend mitnichten etwas ändern wird.«
    »Was für eine Frau?«, fragte Radstock auf Französisch, ungehalten darüber, dass die beiden Männer es fertigbrachten, ihn vom Gespräch auszuschließen. Und vor allem zu erkennen, dass der kleine Kommissar mit den zerzausten dunklen Haaren seine Angst durchschaut hatte.
    Der Wagen war inzwischen auf der Höhe des Friedhofs angekommen, und plötzlich wünschte sich Radstock, die von Lord Clyde-Fox beschriebene Szene möge keine Vision sein. So dass der unbekümmerte kleine Franzose, dieser Adamsberg, seinen Teil vom Alptraum von Highgate abbekäme. Dass er ihn abbekäme und man ihn teilen könne, God. Dann würde man ja sehen, ob der kleine Bulle hinterher immer noch genauso gelassen wäre. Radstock brachte den Wagen dicht am Bürgersteig zum Stehen und stieg nicht aus. Er kurbelte die Scheibe zwanzig Zentimeter hinunter und brachte seine Stablampe in Stellung.
    »Okay«, sagte er und warf im Rückspiegel einen Blick auf Adamsberg. »Teilen wir also.«
    »Was sagt er?«
    »Er fordert Sie auf, Highgate mit ihm zu teilen.«
    »Ich habe nichts von ihm verlangt.«
    »You’ve no choice« , sagte Radstock hart und öffnete die Wagentür.
    »Ich habe verstanden«, sagte Adamsberg und hielt Danglard mit einer Geste zurück.
     
    Der Gestank war widerlich und der Anblick schockierend, selbst Adamsberg erstarrte und hielt sich hinter seinem englischen Kollegen etwas zurück. Aus den rissigen Schuhen, deren Schnürsenkel gelöst waren, ragten verweste Knöchel, man sah das dunkle Fleisch und die bleiche Färbung des sauber abgetrennten Schienbeins. Der einzige Unterschied gegenüber dem Bericht des Lords war, dass die Füße nicht einzutreten versuchten. Sie standen einfach da in ihren Schuhen, grausig und herausfordernd, standen auf dem Gehweg vor dem historischen Eingang zum Friedhof von Highgate. Sie bildeten einen akkurat angeordneten kleinen Haufen, unerträglich anzusehen. Radstock hielt seine Lampe mit weit ausgestrecktem Arm, das Gesicht von Abscheu verzerrt, er beleuchtete die sich zersetzenden Knöchel, die aus den Schuhen ragten, und suchte mit einer vergeblichen Handbewegung den Gestank des Todes wegzuwedeln.
    »Bitte«, sagte Radstock in schicksalsergebenem, aggressivem Ton, indem er sich zu Adamsberg umwandte. »Bitte, das ist Highgate, der verfluchte Ort, und das seit hundert Jahren.«
    »Hundertsiebzig«, präzisierte Danglard leise.
    »Okay«, sagte Radstock und versuchte sich wieder zu fassen. »Sie können in Ihr Hotel zurückfahren, ich lasse meine Leute kommen.«
    Radstock zog sein Telefon heraus, er lächelte
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