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Der verbotene Ort

Titel: Der verbotene Ort
Autoren: Fred Vargas
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irrte. Danglard fragte sich, wie das überhaupt möglich sei, er marterte sich mit Fragen. Pausenlos ließ er die flüchtigen Zeichen Revue passieren, die seine Hoffnung zerstören oder bestätigen konnten. Er sortierte, er bewertete sie, er schätzte ihre Verlässlichkeit ein, so wie man das Eis prüft, bevor man den Fuß darauf setzt. Er testete ihre Konsistenz, ihren möglichen Gehalt, suchte herauszufinden, ob ja, ob nein. Bis diese Zeichen, vom Verstande durch- und durchgeforstet, am Ende alle Substanz verloren hatten. Er brauchte Neues, zusätzliche Indikatoren. Und genau in diesem Augenblick saß jene Frau bestimmt mit den anderen Kongressteilnehmern an der Hotelbar. Er aber, da er Radstock auf seine Expedition begleitete, würde dort fehlen.
    »Wieso müssen wir nachsehen? Der Lord war voll wie eine Strandkanone.«
    »Weil es sich um Highgate handelt«, sagte der Superintendent mit zusammengepressten Zähnen.
    Danglard bereute seine Frage. Sein intensives Nachdenken über die Frau und die Zeichen hatte ihn daran gehindert, bei dem Namen »Highgate« aufzuhorchen. Er hob den Kopf, um etwas zu sagen, aber Radstock wehrte ab.
    »Nein, Denglarde, das können Sie nicht verstehen«, sagte er im rauen, traurigen und endgültigen Ton eines alten Soldaten, der seinen Krieg mit niemandem teilen kann. »Sie waren nie in Highgate. Ich ja.«
    »Aber ich verstehe, dass Sie nicht noch einmal dahin wollten und warum Sie dennoch hinfahren.«
    »Das würde mich wundern, Denglarde, ohne dass ich Sie kränken will.«
    »Ich weiß, was in Highgate passiert ist.«
    Radstock warf ihm einen überraschten Blick zu.
    »Danglard weiß alles«, bemerkte Estalère ruhig im Hintergrund des Wagens.
     
    Adamsberg neben ihm hörte sie reden, fing hin und wieder ein Wort auf. Es war offensichtlich, dass Danglard über dieses Highgate eine Menge Dinge wusste, von denen er, Adamsberg, keine Ahnung hatte. Das war normal, sofern man den sagenhaften Umfang von Danglards Wissen als normal betrachtete. Der Commandant unterschied sich deutlich von einem sogenannten gebildeten Menschen. Er war ein Wesen von phänomenaler Gelehrsamkeit an der Spitze eines vielschichtigen Netzwerks unerschöpflicher Kenntnisse, die, so meinte Adamsberg, eins nach dem anderen alle seine Organe ersetzt hatten und ihn schließlich vollständig ausmachten, so dass man sich fragte, wie Danglard sich überhaupt noch als ein nahezu gewöhnlicher Mensch bewegen konnte. Weshalb er ja auch so schwach auf den Beinen war und nie spazieren ging. Dafür wusste er mit Sicherheit den Namen von dem Typen, der seinen Schrank gegessen hatte. Adamsberg betrachtete Danglards weiches Profil, über welches in diesem Augenblick ein Erschauern lief, das bei ihm den Durchzug des Wissens anzeigte. Sehr wahrscheinlich rief sich der Commandant in aller Eile gerade sein großes Buch des Wissens über Highgate in Erinnerung. Während gleichzeitig irgendeine quälende Sorge seine Konzentration überschattete. Diese Frau vom Kolloquium, natürlich, die sein Gemüt in einen Strudel bohrender Fragen zog. Adamsberg sah zu seinem britischen Kollegen hin, dessen Name so schwer zu behalten war. Stock. Der schien weder an eine Frau zu denken noch seine Wissensgründe zu erforschen. Stock hatte einfach Angst.
    »Danglard«, sagte Adamsberg und tippte seinem Stellvertreter leicht auf die Schulter. »Stock hat kein Verlangen, sich diese Schuhe anzusehen.«
    »Ich sagte Ihnen, dass er normales Französisch im Großen und Ganzen versteht. Verschlüsseln Sie, Kommissar.«
    Adamsberg nickte. Um von Radstock nicht verstanden zu werden, hatte Danglard ihm geraten, sehr schnell und eintönig zu sprechen und manche Silben halb zu verschlucken, aber das auszuführen war Adamsberg unmöglich. Er setzte seine Worte ebenso langsam wie seine Schritte.
    »Er hat überhaupt kein Verlangen danach«, sagte Danglard im Zeitraffer. »Er hat Erinnerungen dort, an die will er nicht rühren.«
    »Was ist dieses ›dort‹ denn?«
    »Es ist einer der absonderlichsten romantischen Friedhöfe des Abendlandes, die Maßlosigkeit schlechthin, eine Entfesselung von Kunst und Grauen. Schaurige Grabmäler, Mausoleen, ägyptische Skulpturen, Geächtete und Mörder. Das Ganze verstreut in der geordneten Wildnis eines englischen Gartens. Ein einmaliger, allzu einmaliger Ort, ein Schmelztiegel aller Wahnideen.«
    »Einverstanden, Danglard. Aber was ist in dieser Wildnis passiert?«
    »Schreckliche Dinge, und letztendlich gar nicht viel. Aber es
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