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Der verbotene Ort

Titel: Der verbotene Ort
Autoren: Fred Vargas
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der Gare du Nord.
    »Was kriegst du nicht raus?«, sagte er abwesend und verschloss seine Tür.
    »Die Katze, die im Schuppen lebt. Du wusstest doch, dass sie Junge kriegt, oder?«
    »Ich wusste nicht, dass im Schuppen eine Katze lebt, und es ist mir auch vollkommen egal.«
    »Dann weißt du’s jetzt. Und es wird dir nicht egal sein, hombre. Sie hat bis jetzt erst drei rausgebracht. Eins ist tot, und zwei weitere stecken fest, ich kann ihre Köpfe spüren. Ich werde massieren und dabei sanft schieben, und du ziehst raus. Aber pass auf, fass nicht wie ein Schlächter zu, wenn du sie holst. So ein Kätzchen, das zerbricht dir unter den Fingern wie Keks.«
     
    Finster und mit dringlichem Ausdruck stand Lucio da und kratzte seinen fehlenden Arm, indem er die Finger im Leeren bewegte. Er hatte oft erklärt, dass er damals, als er seinen Arm verlor, dort einen Spinnenbiss hatte und gerade dabei war, ihn zu kratzen. Aus diesem Grund juckte der Biss ihn noch nach neunundsechzig Jahren, weil er mit dem Kratzen nicht fertig gewesen war, es nicht gründlich hatte machen, nicht hatte vollenden können. Das war die neurologische Erklärung, die seine Mutter ihm geliefert hatte, sie war für Lucio mit der Zeit zur Philosophie schlechthin geworden und ließ sich auf jede Situation und jedes Gefühl anwenden. Man muss bis ans Ende gehen, oder gar nicht erst anfangen. Den Kelch bis zur Neige leeren, auch in der Liebe. Wenn also eine lebenswichtige Handlung ihn intensiv beschäftigte, kratzte Lucio seinen unterbrochenen Spinnenbiss.
    »Lucio«, sagte Adamsberg etwas entschiedener, indem er den kleinen Garten durchquerte, »in eineinviertel Stunden geht mein Zug, mein Stellvertreter steht an der Gare du Nord und verzehrt sich vor Ungeduld, und ich werde jetzt nicht den Geburtshelfer bei deinem Katzenvieh spielen, während in London hundert Spitzenpolizisten auf mich warten. Sieh zu, wie du klarkommst, am Sonntag erzählst du mir dann alles.«
    »Und wie willst du, dass ich hiermit klarkomme?«, schrie der Alte und hob seinen Armstumpf.
    Lucio hielt Adamsberg mit seiner mächtigen Hand auf und reckte sein vorgeworfenes Kinn, das nach Meinung von Commandant Danglard eines Velázquez’ würdig gewesen wäre. Der Alte sah nicht mehr scharf genug, um sich korrekt zu rasieren, und manche Stoppeln entkamen seiner Klinge. Weiß und hart stachen sie hier und da aus seinem Gesicht und bildeten so etwas wie eine Dekoration aus silbrigen Dornen, die in der Sonne glänzten. Manchmal kriegte Lucio eine von ihnen zu fassen, klemmte sie resolut zwischen zwei Fingernägel und zog daran, als wenn er eine Zecke ausreißen würde. Und er gab nicht auf, bevor er sie nicht hatte, gemäß der Spinnenbiss-Philosophie.
    »Du kommst mit mir.«
    »Lass mich in Ruhe, Lucio.«
    »Du hast gar keine Wahl, hombre «, sagte Lucio düster. »Das kreuzt deinen Weg, du musst es wahrnehmen. Oder es wird dich dein Leben lang jucken. Es kostet dich ganze zehn Minuten.«
    »Auch mein Zug kreuzt meinen Weg.«
    »Der kreuzt hinterher.«
    Adamsberg ließ seinen Koffer los und verfluchte seine Ohnmacht, während er Lucio zum Schuppen folgte. Ein klebriges, blutbeschmiertes Köpfchen zeigte sich zwischen den Hinterpfoten des Tieres. Unter den Anweisungen des alten Spaniers nahm er es behutsam in seine Hand, während Lucio mit professionellem Griff auf den Bauch drückte. Die Katze miaute fürchterlich.
    »Zieh noch ein bisschen stärker, hombre , fass es unter den Pfoten und zieh! Entschlossen, aber sanft, und drück nicht den Schädel zusammen. Mit deiner anderen Hand kraul der Mutter die Stirn, sie ist in Panik.«
    »Lucio, wenn ich jemandem die Stirn kraule, schläft er ein.«
    » Joder! Zieh, verdammt!«
     
    Sechs Minuten später legte Adamsberg zwei kleine rote, piepsende Ratten neben zwei andere auf eine alte Decke. Lucio schnitt ihnen die Nabelschnur durch und legte sie nacheinander an die Zitzen. Er warf einen besorgten Blick auf das klagende Muttertier.
    »Wie war das mit deinen Händen? Womit bringst du die Leute in Schlaf?«
    Adamsberg schüttelte bedauernd den Kopf.
    »Ich weiß es nicht. Wenn ich ihnen die Hand auf den Kopf lege, schlafen sie ein. Das ist alles.«
    »So machst du es mit deinem Kind?«
    »Ja. Es kommt auch vor, dass die Leute einschlafen, während ich mit ihnen rede. Ich habe schon Verdächtige während eines Verhörs eingeschläfert.«
    »Dann mach das mit der Mutter. Apúrate! Mach, dass sie einschläft.«
    »Großer Gott, Lucio, kriegst du das
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