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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss
Autoren: Laini Taylor
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erschaffen und damit den alten Gott verärgert. Und Mihai dachte, sie würde sich letzten Endes daran erinnern. Er fürchtete, sie würde jetzt gerade genug Menschlichkeit haben, damit sie um das trauern könnte, was sie getan hatte, aber nicht genug, um ihn zu lieben.
    Die Bestien waren nach Esmés entsetzlichem Schrei verstummt. Als Mahzarin jetzt Mihai verwirrt anstarrte, gab eine von ihnen vor der Tür ein langes Stöhnen von sich. Mahzarin erhob sich geschmeidig, als habe sie keineswegs vierzehn Jahre stillgesessen. Eine Wolke von Staub stieg von ihrem Seidenkleid und ihrem schwarzen Haar auf.
    Auf dem Boden versuchte Esmé, sich aufzusetzen.
    Mihai blickte von dem Mädchen zu der Frau. Zwei liebliche, verängstigte Gesichter, die sich voneinander unterschieden wie Tag und Nacht, Gold und Elfenbein, die jedoch auf ewig vereint waren, auch wenn sie es noch nicht begriffen hatten. Esmé gab einen leisen Laut von sich, wie er von einem Kätzchen hätte stammen mögen. Mihai stand zwischen ihnen. Seine Seele wurde von Mahzarin angezogen. Er wollte in ihrem Anblick ertrinken, und dennoch kniete er, nahm Esmé in die Arme und half ihr, sich hinzusetzen.
    Mahzarin sah die silbernen Lider an der Wand und bemerkte die Fäulnis. Vor der Tür brüllten die Bestien erneut, und sie fuhr in die Richtung herum. Mihai sah den Zorn, der in ihr aufwallte, als sich ihre Erinnerungen wieder einstellten. Ihre Lippen wurden weiß. Sie rauschte an Mihai vorbei zur Tür. Er hatte den Schlüssel in der Tasche, doch den brauchte sie nicht. Mit einem geflüsterten Wort stieß sie die Tür aus den Angeln, die daraufhin über die Kante der eingestürzten Brücke in die Schlucht fiel und einige Bestien mit sich riss. Deren gellende Schreie verhallten in der Tiefe. Andere Bestien klammerten sich weiter an den Turm. Mit den Armen fuchtelten sie in der offenen Tür herum.
    Mihai schaute voller Ehrfurcht zu. Esmé kniff die Augen zusammen und drängte sich an ihn. Mahzarin stand wie eine zornige Göttin in der Tür und flüsterte ein zweites Wort, ja, fauchte es, und die Bestien wurden wie von einer unsichtbaren, riesigen Hand vom Turm gerissen und fielen in die Tiefe. Sie stürzten heulend in die Finsternis. Mahzarin trat auf die Schwelle und sah die verfallene Zitadelle. Überall hingen die verhungerten, klagenden Bestien, und unter ihren langen weißen Armen bröckelte der Stein. Mahzarin atmete hektisch. Ihre Augen bekamen einen fiebrig-glasigen Glanz. »Mihai«, knurrte sie, entblößte ihre Eckzähne und fuhr zu ihm herum.
    Aber er war verschwunden, und Esmé ebenso. Nur der Staub der vergangenen vierzehn Jahre tanzte noch in den Strahlen des Lichts. Das Tabernakel war leer.
    Die Königin der Druj stieß ein schreckliches Geheul aus, das durch ganz Tajbel hallte. Fern im Wald hörten es einige ihrer verstreuten tierischen Untertanen und freuten sich. An den Felswänden und den Steinen der Türme duckten sich die Bestien. Sie erinnerten sich an sie, wenn auch nur schwach. Ihr Hunger war stärker als ihre Angst. Sie drängten weiter vorwärts. Voller Wut trat sie ihnen entgegen, und in ihrem Schmerz und ihrer Verwirrung tosten ihre Kräfte voran wie ein Wirbelsturm und fegten alles davon, was sich ihnen in den Weg stellte.

– SIEBZEHN –
Warten
    E inige Wochen später liefen sich Mihai und Mab in Yazads Bibliothek über den Weg. Sie kam gerade heraus, und er wollte hinein, und er ließ sie vorbei. Es versetzte ihm einen Stich der Reue, dass sie ihn kaum zu bemerken schien. Sie bewegte sich in letzter Zeit wie eine Schlafwandlerin, und der gehetzte Ausdruck in ihren Augen erinnerte ihn an das Kind, das sie in Tajbel als Liebling ohne eigenen Namen gewesen war. »Tut mir leid«, flüsterte er hinter ihr her, doch sie hörte es gar nicht.
    Er trat in die Bibliothek und holte Esmés abgeschnittenen roten Zopf aus seiner Tasche. Das Mädchen saß in einem Sessel am Fenster und starrte hinaus. Mihai entrollte den Zopf und ließ ihn vor ihr baumeln, bis sie sich aus dem Tagtraum und der Erinnerung löste, denen sie nachgehangen hatte. »Mein Haar«, sagte sie traurig.
    »Es hat vierzehn Jahre gedauert, bis es so lang war«, sagte er. »Und du hast es einfach an einem Kronleuchter hängen lassen? Leichtsinnig.«
    »Gar nicht«, protestierte sie. »Meine Mutter –«
    »Ich weiß. Und wenn du dich umdrehst, mache ich ihn wieder fest.«
    »Wirklich?«, fragte sie und sah zu ihm auf.
    Mihai lächelte und nickte. Esmé beugte sich vor und wandte ihm
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