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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss
Autoren: Laini Taylor
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schöne Linie von Toms Kinn aufgefallen, und Tom hatte die süße Perfektion von Esmés kleinem Gesicht bewundert, und ihre verstohlenen Blicke hatten sich in der Mitte getroffen. Sie waren errötet und hatten die Hände tiefer in die Taschen gestopft.
    »Danke für den Spaziergang«, hatte Tom schließlich gesagt, als sie vor Esmés Tür angekommen waren, und Esmé hatte den Kopf in den Nacken gelegt und ihn angesehen – sie reichte ihm nur bis zur Schulter. Sie hatte ihn angelächelt, ein kleines Freudenstrahlen, das weitere Spaziergänge versprochen hatte.
    Die Enten waren durchaus keine Hungerleider, aber in den nächsten Wochen und Monaten wurden sie ein wenig fetter und lernten rasch, das rothaarige Mädchen und den blonden Jungen zu erkennen, die sonntags Schulter an Schulter kamen und die Taschen voller Brot hatten. Die Enten bemerkten es vermutlich kaum, doch nach einigen Wochen gelang es Esmé und Tom, sich anzusehen, ohne gleich den Blick wieder abzuwenden, auch wenn das Erröten noch nicht aufgehört hatte. Und nach einer Weile saßen sie sich auf ihrer Lieblingsbank sogar gegenüber, unterhielten sich und ließen sich selbst von diesem Pelikan namens Vaclav nicht stören, der sich zum Schlafen zwischen ihnen niederließ.
    Tom brachte Esmé stets eine Blume mit. Zunächst waren es Rosen aus dem Gewächshaus, doch als der Frühling kam, wurden es Narzissen, und im Sommer Dahlien, die so groß waren, dass Esmé sie mit beiden Händen halten musste. An einem Sonntag im Juli betrachtete sie wieder einmal eine davon, während sie auf ihrer gewohnten Bank saßen. Die Blüte war weiß und zeigte in der Mitte einen zarten Hauch Rosa, und Esmé fragte: »Wie heißt sie?«
    Toms Wangen wurden rot. Der Name der Dahlie lautete »Verrückte Liebe«, und als er sie am Morgen im Laden ausgesucht hatte, wusste er wohl, dass Esmé danach fragen würde – sie liebte Blumennamen –, und er hatte sich vorgestellt, wie er ihn ihr nennen würde. Es wäre, so hatte er gedacht, eine Möglichkeit, das Wort »Liebe« zu ihr zu sagen. Aber jetzt, als es soweit war, hatte er einen trockenen Mund. Er murmelte nur irgendetwas.
    Esmé verstand ihn nicht, sah ihn an und bemerkte die roten Wangen und die ängstlichen Augen. »Wie bitte?«, fragte sie leise.
    Er schluckte, und heiser wiederholte er: »Sie heißt Verrückte Liebe«, aber es gelang ihm, Esmé in die Augen zu sehen, während er »Liebe« sagte.
    Sie schaute rasch wieder auf die rosa Blütenmitte und fühlte sich, als würde dieses kleine Wort sie aufgehen lassen wie eine Knospe, als hätte die Sonne sie berührt, als würde sie nun ihre Blütenblätter entfalten, um die Wärme besser aufzufangen. Sie lächelte und errötete. Tom sah es und beugte sich in einem plötzlichen Anfall von Verwegenheit einfach vor.
    In einer der dunklen Schichten von Esmés Gedächtnis gab es einen Kuss. Lebhaft erinnerte sie sich an Mihai, nackt und mit Eckzähnen, wie er im Schnee hockte. Dieser Kuss hatte uralte Leidenschaften beschworen, die ein Gott hatte auslöschen wollen, und Esmé erinnerte sich an die feste Berührung und sogar an den Geschmack des schwarzen Flusses. Aber dieser Kuss gehörte jemand anderem. Toms Kuss hingegen war nicht leidenschaftlich. Esmé hatte keine Zeit, die Augen zu schließen und ihm entgegenzukommen, und so traf er nur halb ihre Lippen. Dieser Kuss war unbeholfen und endete rasch.
    Aber er gehörte ihr.
    Tom lehnte sich zurück und starrte auf seine Hände, weil er sich wegen seiner eigenen Verwegenheit schämte.
    Esmés Herz klopfte ein paar Schläge schneller, dann streckte sie zaghaft die Hand aus und schob ihre Finger durch seine. Bis zum Birdcage Walk hielten sie Händchen, und ohne es absprechen zu müssen, machten sie auf dem Rückweg weite Umwege, um möglichst lange zusammenzubleiben. Vor Esmés Tür blieben sie stehen, weil sie einander nicht loslassen wollten.
    Im Laufe der Zeit fanden Toms Küsse besser ihren Weg zu Esmés Lippen, aber sie blieben sanft, und er errötete auch weiterhin, wann immer er sie ansah. Ob er der Seelenfreund werden würde, mit dem sie die Jahrhunderte verbringen wollte, blieb abzuwarten. Sie waren noch Kinder, was Mab niemals hatte erleben dürfen, und es war so schön. Esmé war glücklich, aber trotzdem war da stets ein Gefühl in ihr, wie ein Phantomschmerz, so als habe sie einen Teil ihrer Selbst verloren. Manchmal, in stillen Momenten, überwältigte sie dieser schmerzliche Verlust.
    Sie wurde fünfzehn, und noch
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