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Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden

Titel: Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Autoren: Kate Morton
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bestand darin, die Papiere der Leute zu überprüfen
und sich zu vergewissern, dass sie am richtigen Ort angekommen waren. Manche von denen konnten fast kein Englisch.
    Soweit ich weiß, hat es dann eines Tages ein ziemliches Theater gegeben. Ein Schiff aus England legte im Hafen an, das eine schreckliche Reise hinter sich hatte. Unterwegs war eine Typhusepidemie ausgebrochen, einige Passagiere hatten einen Hitzschlag erlitten, was weiß ich, und bei der Überprüfung im Hafen gab es plötzlich überzählige Gepäckstücke und Personen, die nicht auf der Passagierliste standen. Es war alles ein Riesendurcheinander. Pa hat natürlich alles geregelt - er hatte ein Händchen dafür, Ordnung zu schaffen -, aber dann ist er länger als gewöhnlich im Büro geblieben, um dem Nachtwächter zu berichten, was vorgefallen war, und ihm zu erklären, warum diese Gepäckstücke im Büro rumstanden. Und während er auf den Nachtwächter wartete, hat er gesehen, dass noch immer jemand am Kai war. Ein kleines Mädchen von höchstens vier Jahren, das auf einem Kinderkoffer saß.«
    »Und meilenweit keine Menschenseele«, fügte Dot kopfschüttelnd hinzu. »Sie war ganz allein.«
    »Pa hat versucht, aus ihr rauszubekommen, wer sie war, aber sie wollte es ihm nicht sagen. Sie hat immer nur gesagt, sie weiß es nicht, sie kann sich nicht erinnern. Am Koffer war kein Namensschild befestigt, und auch in dem Koffer hat Pa nichts gefunden, was ihm hätte weiterhelfen können. Es war spät, es wurde schon dunkel, und ein Unwetter zog auf. Pa sagte sich, dass die Kleine Hunger haben musste, und am Ende wusste er sich nicht anders zu helfen, als sie mit nach Hause zu nehmen. Was hätte er auch sonst tun sollen? Er konnte sie ja schlecht die ganze Nacht im Regen am Kai sitzen lassen, oder?«
    Cassandra schüttelte den Kopf und versuchte, das erschöpfte, einsame kleine Mädchen aus Phyllis’ Geschichte mit der Nell in Übereinstimmung zu bringen, die sie gekannt hatte.
    »So wie June es dargestellt hat, ist Pa am nächsten Tag zur Arbeit
gegangen in der Erwartung, dort verzweifelte Angehörige, die Polizei und sonst jemanden vorzufinden, der Nachforschungen anstellte …«
    »Aber es war niemand da«, sagte Dot. »Ein Tag nach dem anderen verging, ohne dass sich jemand nach dem Kind erkundigte.«
    »Es war, als hätte sie keine Spur hinterlassen. Natürlich haben sie versucht, in Erfahrung zu bringen, wer sie war, aber bei den vielen Menschen, die Tag für Tag am Hafen eintrafen … Da waren so viele Papiere auszufüllen, dass ganz leicht etwas übersehen werden konnte.«
    »Oder jemand.«
    Phyllis seufzte. »Also haben sie sie behalten.«
    »Was blieb ihnen denn auch anderes übrig?«
    »Und sie haben sie glauben lassen, sie wäre ihre Tochter.«
    »Und unsere Schwester.«
    »Bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag«, sagte Phyllis. »Da hat Pa sich entschlossen, ihr die Wahrheit zu sagen. Dass sie ein Findelkind war und es nichts als einen Koffer gab, anhand dessen man sie womöglich hätte identifizieren können.«
    Schweigend versuchte Cassandra, das alles zu verdauen. Sie legte eine Hand um ihre warme Teetasse. »Sie muss sich schrecklich verlassen gefühlt haben.«
    »Ja, bestimmt«, pflichtete Dot ihr bei. »Die ganze Reise über allein. Monatelang auf diesem großen Schiff, nur um auf einem menschenleeren Kai zurückgelassen zu werden.«
    »Und die ganze Zeit danach.«
    »Was meinst du damit?«, fragte Dot stirnrunzelnd.
    Cassandra presste die Lippen zusammen. Ja, was meinte sie eigentlich damit? Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Nells Einsamkeit. Als hätte sie in diesem Augenblick eine wichtige Eigenschaft von Nell erblickt, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Plötzlich verstand sie eine Seite an Nell, die ihr sehr vertraut war. Ihre Verschlossenheit, ihre Selbstständigkeit, ihre
Kratzbürstigkeit. »Sie muss sich vollkommen allein gefühlt haben, als ihr mit einem Mal klar wurde, dass sie nicht die war, für die sie sich immer gehalten hatte.«
    »Ja«, sagte Phyllis überrascht. »Ich muss gestehen, dass ich das anfangs gar nicht begriffen habe. Als June mir die ganze Geschichte erzählt hat, konnte ich nicht nachvollziehen, warum sich deswegen alles geändert hat. Ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum Nell sich die Geschichte so zu Herzen genommen hat. Ma und Pa haben sie geliebt, und wir jüngeren Mädchen haben unsere große Schwester bewundert; eine bessere Familie hätte sie sich nicht wünschen
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