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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte
Autoren: Julia Stuart
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Knie gesunken war, ermordet hatte, gesellte er sich zu den Touristen, die zu der Kammer mit den Folterinstrumenten unterwegs waren. Er hörte ihr enttäuschtes Murmeln, als sie auf der Informationstafel lasen, dass Folter in England nur selten praktiziert wurde und ihre Anwendung auf Gefangene des Towers nur in einundachtzig Fällen belegt ist. Die Stimmung hellte sich allerdings auf, als die Besucher die Streckbank mit ihren faszinierenden, sich in entgegengesetzter Richtung drehenden Rollen sahen, dann die Ringe, an denen die Gefangenen an den Handgelenken aufgehängt wurden, und schließlich die Scavenger’s Daughter mit ihrem grauenerregenden Metallgestänge, das den Körper in eine qualvolle kniende Position zwang.
    Als die Wirtin erschien und sich entschuldigte, weil es so lange gedauert hatte, führte der Geistliche sie in den dunklen hinteren Teil des Raums. Er schaute sich um, weil er sichergehen wollte, dass ihn niemand hörte, und teilte ihr seine Entscheidung mit. »Ich werde den Dienst in der Kirche quittieren«, sagte er und schaute sie im Dämmerlicht an.
    Der Kaplan erklärte, er habe den Eindruck, dass er Gott mit dem Heim besser dienen könne als im Tower, wo die Gemeinde nur in die Kapelle zu kommen schien, um sich an den Heizkörpern aufzuwärmen. Sein Verleger habe ihm einen Vertrag für weitere sechs Bücher mit einem noch höheren Vorschuss angeboten, was bedeute, dass er noch mehr Damen retten könne als im Moment. Und das sei noch nicht alles, denn das üppige Wachstum des Gemüses in ihrem Küchengarten habe ihnen soeben einen Liefervertrag mit einem Londoner Restaurant eingebracht.
    Stille trat ein.
    »Wo werden Sie leben?«, fragte Ruby Dore und fummelte an den Enden ihres Schals herum.
    »Ich werde eine kleine Wohnung in der Nähe des Heims mieten. Viel brauche ich ja nicht.«
    Ruby Dore schaute weg. »Ich war auch nicht ganz aufrichtig zu Ihnen«, gestand sie. »Da es sich ohnehin nicht mehr lange verbergen lässt, kann ich es Ihnen auch erzählen. Ich bekomme ein Kind.«
    Jetzt war es Rev. Septimus Drew, der nichts mehr sagte. Beide schauten sie zu Boden. Schließlich brach die Wirtin das Schweigen. »Ich gehe wohl besser zurück an die Arbeit«, sagte sie.
    Als sie sich zum Gehen wandte, hörte der Geistliche sich plötzlich fragen: »Hätten Sie Lust, irgendwann das Florence-Nightingale-Museum mit mir zu besuchen? Dort ist eine zahme Eule namens Athena ausgestellt.«
    Ruby Dore blieb stehen und schaute ihn an.
    »Florence Nightingale hat sie in Athen gerettet, und fortan ist sie in ihrer Tasche überall mit hingereist. Sie hat das Tier so sehr geliebt, dass sie es nach ihrem Tod hat ausstopfen lassen«, fügte er hinzu.
    Valerie Jennings lag auf dem Rücken in dem leeren Sarkophag und atmete die staubigen Überreste eines alten Ägypters ein. In der mit Zedernduft getränkten Atmosphäre schloss sie die Augen und dachte daran, dass ihre obskure Lieblingsschriftstellerin, wie sie soeben herausgefunden hatte, ihr Leben lang unverheiratet geblieben war.
    Nicht einmal das plötzliche Erscheinen von Dustin Hoffman am original viktorianischen Schalter an diesem Morgen hatte ihre Stimmung zu heben vermocht. Sie hatte einfach nach irgendeinem Ausweis gefragt und dann, ohne Hebe Jones irgendetwas von dem illustren Gast mitzuteilen, den Oscar geholt, der zwei Jahre lang auf ihrem Schreibtisch gestanden hatte. Der Schauspieler hatte ihn mit demselben Desinteresse ausgehändigt bekommen, mit dem sie einen x-beliebigen Bürger mit seinem Schlüsselbund wieder vereint hätte.
    Nachdem sie die Augen wieder geöffnet hatte, starrte sie auf die Verzierungen an der Unterseite des Deckels, die im Dämmer zu erkennen waren, weil sie nämlich, um nicht zu ersticken, den Deckel mit Hilfe eines Buchs einen Spalt offen gelassen hatte. Wieder einmal dachte sie darüber nach, wie lächerlich sie Arthur Catnip, von dem sie seit ihrem Dinner nichts mehr gehört hatte, vorgekommen sein musste. Sie bedauerte es zutiefst, dass sie zu dem Essen das Kleid einer anderen Frau getragen hatte.
    Plötzlich vernahm sie ein höfliches Klopfen am Deckel des Sarkophags. Hebe Jones hatte eine Weile gebraucht, bis sie ihre Kollegin gefunden hatte. Sie war den endlosen Gang mit den Metallregalen entlanggelaufen, auf denen sich die verlorenen Besitztümer stapelten, bis sie plötzlich über ein Paar flacher schwarzer Schuhe mit Gummisohle gestolpert war. Sofort hatte sie sich einmal um ihre eigene Achse gedreht, aber Valerie
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