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Der unsichtbare Feind (German Edition)

Der unsichtbare Feind (German Edition)

Titel: Der unsichtbare Feind (German Edition)
Autoren: Nate Reynolds
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sich die Karlskirche endlich vor
ihm erhob. Sie ragte mit ihrer türkisfarbenen Kupferkuppel und den beiden
flankierenden Reliefsäulen, deren kunstvolle Ausgestaltung einem den Atem
raubte, weit über die Dächer des vierten Wiener Gemeindebezirkes hinaus.
    Unmittelbar vor der Kirche kniete
er auf den harten Steinboden nieder und faltete seine beiden Hände vor der
Brust. Die Sonne heizte seinen Körper erbarmungslos auf, lange würde er hier nicht
betteln können.
    Nach einer halben Stunde kniend
in der Mittagshitze, konnte er bereits vierundfünfzig Cents sein Eigen nennen. Zugegeben,
Menschen, die dem gesellschaftlichen Diktat folgten und Tag für Tag immer
dieselbe monotone Arbeit verrichteten, um am Monatsersten sämtliche Rechnungen
bezahlen zu können, solche wirbellosen Kreaturen würden wohl darüber lachen,
aber für ihn war die Ausbeute nicht übel. Kurzer Hand beschloss Gipsy, sein
erbetteltes Geld im nächsten Supermarkt gegen eine Dose Bier zu tauschen. Für
ihn war nicht die Marke, sondern der Alkoholgehalt entscheidend, es war sein
ganz eigenes Preis-Leistungs-Verhältnis. Beim Gedanken an den süß-bitteren
Geschmack lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
    Kurze Zeit später, er
zerdrückte gerade die leere Dose in seinen Händen, machte er in der Ferne eine
Gestalt aus, die augenblicklich seine ungeteilte Aufmerksamkeit erregte. Ein
Mann, Mitte vierzig, dessen schütteres Haar die Fettrollen an seinem Hinterkopf
kaum zu überdecken vermochte, ging mit einem in schwarz gehaltenen Lederkoffer
den Bürgersteig entlang. Die goldenen Schlösser an der Stirnseite glitzerten im
Licht der unbändigen Sonne. Immer wieder kramte er ein Stofftaschentuch hervor
und tupfte damit seine Stirn. Der Mann hastete im Laufschritt an der Sezession,
an deren Dach ein Blätterwerk aus vergoldeter Bronze in der Form einer Kuppel
ragte, vorbei in Richtung Naschmarkt. Angespannt sah er sich immer wieder nach
allen Seiten um und riskierte dazwischen regelmäßig einen Blick auf seine
Armbanduhr.
    Gipsy grinste von einem Ohr
zum anderen, dann drehte er sich um: „Hey Jonny, komm mal rüber, ich glaub‘ ich
hab‘ da was für uns!“
    Jonny, der an einem
Laternenmast lehnte, trat heran und folgte Gipsys Blick. In Sekundenschnelle zogen
auch seine Mundwinkel nach oben und offenbarten dabei die dentale Horrorversion
des Turmes von Pisa nach einem Flächenbrand. Ein lebensfeindliches Terrain, an
dem sich nur Karies und Fäulnisbakterien noch einigermaßen wohlfühlten, aber
letztendlich vor getaner Arbeit standen.
    „Schaut ganz danach aus“,
entgegnete er. Bei jedem Wort tröpfelte Speichel zwischen seinen Zahnstummeln
hervor und beträufelte seine wild wuchernde Gesichtsbehaarung.
    „Pass auf“, fuhr Gipsy fort,
ohne den Mann aus den Augen zu lassen, „wir machen es so wie letzte Woche bei
dem Chinesen, alles klar?“
    „Klar“, antwortete Jonny
knapp.
    Ohne weitere Worte gingen sie
auseinander.
    Gipsy nahm Geschwindigkeit auf
und folgte dem Mann. Er war gut hundert Meter vor ihm, Tendenz sinkend. Mit
langen Schritten näherte sich Gipsy stetig, aber unauffällig. Jonny hingegen war
wie vom Erdboden verschluckt. Kurz vor Erreichen des Naschmarktes, bog er in
die Getreidegasse ab. Gipsy beschleunigte seine Schritte weiter. Er hatte den
Abstand zum Fremden auf etwa dreißig Meter reduzieren können, jetzt konnte er
sowohl seine Schritte hören, als auch den penetranten Geruch seines Schweißes
wahrnehmen. Die Angst stand dem Mann ins Gesicht geschrieben, sie kroch aus
jeder seiner Poren.
    „Wovor fürchtet er sich so
sehr?“, fragte sich Gipsy.
    In der Ferne konnte er jetzt
Jonnys hagere Gestalt ausmachen, die auf ihn zukam, der Mann dazwischen, nach
wie vor nichts ahnend.
    Jonny war fast bei ihm
angelangt. Dann ging alles ganz schnell. Der Obdachlose machte sich vor ihm
breit und versperrte den Weg.
    „Hey du, hast du ein paar
Cents für mich?“, fragte er und streckte seine dreckverschmierte Hand aus.
    Der Mann senkte wortlos den
Blick, drehte sich seitwärts und versuchte an Jonny vorüberzugehen, worauf der sich
ihm erneut in den Weg stellte.
    „Du schaust aus, als ob dir
ein paar Cents mehr oder weniger nichts tun würden.“
    Der Mann sah ein, dass es
ohne Aufsehen zu erregen kein Vorbeikommen gab, und blickte zu Jonny, der einen
Kopf größer war als er, auf.
    „Ach komm schon, nur ein
paar Cents, die mich über den Tag bringen, ich hab seit gestern nichts mehr
gegessen“, nach einer kurzen Kunstpause legte
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