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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman
Autoren: Christina McKenna
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gefolgt von einer tadelnden Stimme – »Himmel, sieh dir mal an, in welchem Zustand du bist!«.
    So plötzlich ernüchtert, dazu durch und durch deprimiert, setzte er sich die Kappe auf. Nachdem er diese Handgriffe hinter sich gebracht hatte, war er bereit, sich dem Tag zu stellen.
    Da an Arbeitstagen keine weitere persönliche Hygiene vorgesehen war, brauchte er nur knapp fünf Minuten vom Aufstehen bis in die Scheune. Doch am Sonntagmorgen legte er sich mit Rasierer, Kamm und einer Schüssel Seifenwasser besonders ins Zeug, bevor er in der Messe vor seinen Schöpfer trat.
    Wie sollte er an diesem schönen Sommermorgen wissen, dass er, Jamie McCloone, sich bald solche Mühe mit seinem Äußeren geben würde, dass sich selbst sein Schöpfer mit dem zweiten Platz zufriedengeben musste.

2
    Lydia Devine faltete ihren schiefergrauen V-Ausschnitt-Pullover (50 Prozent Angora, 33 Prozent Wolle und 17 Prozent Polyamid) zu einem ordentlichen Rechteck und legte ihn zufrieden in die unterste Schublade ihrer Kommode.
    Nun, wo das Schuljahr zu Ende war und der Sommerwind in ihr Schlafzimmerfenster hereinwehte, war es höchste Zeit, die Wintergarderobe einzumotten. Dieser Moment, der Übergang von kühlen zu warmen Tagen, von einem grauen Himmel zu einem blauen, von Arbeit zu wohlverdienter Freizeit, war der Höhepunkt von Lydias Jahr. Nicht, dass sie nicht gerne arbeitete. Sie war auch keine Sonnenanbeterin, im Gegenteil, sie verabscheute Sonnenbrände. Aber in ihren Sommerferien hatte sie etwas Zeit für sich, konnte ihrer Leidenschaft nachgehen, Romane zu lesen, Briefe zu schreiben und lange Spaziergänge über Land auf kleinen Pfaden zu unternehmen.
    Bei diesem Ausblick seufzte sie vor Vergnügen. Sie lief leichtfüßig zum Mahagonischrank und öffnete die Türen, als würde sie einem Magier assistieren. Auf den Regalbrettern stapelten sich die ordentlich beschrifteten Schachteln, in denen die schönen leichten Blusen und Röcke lagen, die sie in den unbekümmerten nächsten Wochen anziehen wollte.
    Nichts freute Lydia mehr als ein aufgeräumtes Zimmer, in dem alles seinen Platz hatte. In den vielen Jahren als Lehrerin, in denen sie Kindern beigebracht hatte, sauber zu sein, sich gerade hinzusetzen und ihreTische in ordentlichem Zustand zu halten, hatte sie sich angewöhnt, selbst auch gewissenhaft und korrekt zu sein.
    Sie zog sich sorgfältig vor dem Standspiegel an und freute sich, dass sie den Reißverschluss ihres Etuikleides immer noch mühelos zuziehen konnte. Da sie mit vierzig noch unverheiratet war, fühlte sie sich irgendwie verpflichtet, eine jugendliche Silhouette zu bewahren. Sie wusste, dass Männer mehr Wert auf eine gute Figur legen als auf ein schönes Gesicht.
    Sie setzte sich fröhlich vor die Frisierkommode, nur um den allzu bekannten Stich zu spüren, als sie ihr Gesicht sah. Da gab es wenig zu bewundern. Ihre Nase war zu lang, Mund und Augen zu klein. Eine tiefe Furche zwischen den Augenbrauen verriet die vielen Jahre, die sie damit verbracht hatte, den Problemen und Sorgen ihrer Schüler zuzuhören. Ihre Wangen waren etwas zu rot – Winterwind und Sommersonne hatten beide die gleiche Wirkung auf sie. Doch das spielte keine Rolle: Diesen Makel konnte sie beheben, indem sie das hellbeige Puder von Max Factor großzügig auftrug.
    Für ihr Make-up brauchte sie nicht lange. Sie hatte irgendwann in der Woman’s Realm in Dorothy Dibbits Schönheitskolumne gelesen, dass Lippenstift und Lidstrich nur benutzt werden sollten, wenn man schöne Lippen und Augen hervorheben wollte, und hatte sich an den Rat gehalten. Ein sorgfältig gepudertes Gesicht und gut gebürstete Haare standen bei ihr im Vordergrund – und waren in ihren Augen tatsächlich die einzigen Verbesserungen, die sie vornehmen konnte.
    Sie stand zufrieden auf, stellte den seidenbezogenen Hocker in die Einbuchtung der Frisierkommode und verließ das Schlafzimmer. Die Zubereitung des Frühstücks ihrer Mutter hatte immer Vorrang.
    Als Lydia keine zwanzig Minuten später mit einem Frühstückstablett beladen die Tür zum Zimmer ihrer Mutter aufdrückte, war sie überrascht, dass die alte Dame schon aufrecht im Bett saß und wütend am Bündchen eines Fair-Isle-Pullovers strickte.
    »Oh, du bist heute aber früh dran, Mutter!« Sie neigte dazu, morgens in einen Singsang zu verfallen, um gleich gute Stimmung zu verbreiten.Sie brauchte das, weil sie immer eine leichte Furcht verspürte, wenn sie ihrer Mutter unter die Augen trat – genau wie bei
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